Einführung
Die hochschulpolitische Diskussion hat in den vergangenen Jahren eine auffällige Wendung genommen. Wurde sie in den neunziger Jahren noch von der Diagnose geprägt, dass unter anderem die Massenuniversität ein anhaltendes Phänomen in der Hochschullandschaft sei, gewinnt allmählich die Einsicht an Bedeutung, dass trotz den auch für die Zukunft prognostizierten hohen Studierendenzahlen und entgegen einer vermeintlichen Akademikerschwemme ein anhaltender Mangel an hochqualifizierten Arbeitskräften zu erwarten ist. Zwar ist die gegenwärtige Situation weniger dramatisch als Mitte der sechziger Jahre, doch die Parallelen zur damaligen Bildungskrise sind unverkennbar.
Ziel des hier beantragten Vorhabens war es, die Ursachen für die im internationalen Vergleich geringe Partizipation am höheren Bildungssystem sowie die im Verhältnis zu den Studienanfängerzahlen in vielen Fächern geringen Abschlussquoten zu untersuchen. Hierbei sollten vor allem sozialstrukturelle Faktoren und milieuspezifische Unterschiede in den Blick genommen werden. Insbesondere interessierte die Frage, inwieweit sich spezifische Leistungsmilieus entlang der sozialen Herkunft sowie der in Schule und Studium gewählten Fächer differenzieren lassen.
Die zugrunde liegende These war hierbei, dass Fachwahl und Fächerkultur sich entsprechend der spezifischen Orientierungsmuster und Leistungseinstellungen beschreiben lassen. Es wurde erwartet, dass vor allem die naturwissenschaftlichen Fächer sowie die Ingenieurwissenschaften, die trotz guter Berufsaussichten nach wie vor schwach nachgefragt werden, aufgrund veränderter Leistungsmilieus in den vorangegangenen Jahren an Akzeptanz bei den Studienanfängern verloren haben.^
Projektbeschreibung
Von Bedeutung für die Untersuchung sind die für die Beschreibung sozialer Milieus gebildeten Dimensionen, die über die Determinanten der Schicht bzw. der sozialen Lage hinaus Einstellungen und Orientierungsmuster betonen. Neben milieuspezifischen Gesellschaftsbildern, Einstellungen zu Familie und Freizeit sind es vor allem die Dimensionen der Einstellung zu Arbeit und Leistung sowie milieuspezifische Stilwelten, die für das geplante Projekt von Interesse waren.
Die damit intendierte Erhebung spezifischer Leistungsmilieus sowie von Orientierungs- und Motivationsmustern bei Eltern, Schülerinnen, Schülern und Studierenden an den entscheidungsrelevanten Schnittstellen des Übergangs zwischen Schularten bzw. zur Hochschule bildet eine zentrale Fragestellung, die bislang in der Hochschul- und Bildungsforschung kaum in den Blick genommen wurde. Arbeiten zur Leistungsmotivgenese entstanden vor allem unter der Perspektive der Untersuchung frühkindlicher Sozialisationsprozesse (vgl. u.a. Trudewind 1982), nicht aber hinsichtlich der Gestaltung von Bildungsbiographien.
Zur Erfassung und Charakterisierung von Leistungsmilieus wurden in Anlehnung an die in der Untersuchung zur Studienmotivation und Studienkultur verwendeten Orientierungsalternativen Dimensionen gebildet, die zur Beschreibung von Leistungsmilieus mit Bezug auf die geplante oder tatsächliche Fachwahl, die soziale Herkunft und die Wahrnehmung von Bildungsoptionen dienten (zu einigen dieser Orientierungsmuster liegen Vergleichsergebnisse aus einer Studie von Heublein und Sommer vor, die als kontrastierender Hintergrund für die Interpretation der gewonnenen Ergebnisse verwendet wurden, vgl. Heublein und Sommer 2000). Diese Dimensionen sind allerdings nicht als unabhängige Variablen zu verstehen, sondern stellen mit Bezug auf das Leistungsmilieu sich wechselseitig bedingende Faktoren dar. Mit anderen Worten können Leistungsmilieus einerseits als additive Resultante der unterschiedlichen Orientierungsmuster verstanden werden, während sie andererseits wiederum auf individuelle Orientierungen und Präferenzen rückwirken.
Darüber hinaus ist davon auszugehen, dass die soziale Herkunft einerseits die Ausbildung spezifischer Leistungsmilieus unterstützt, zugleich aber auch als unabhängige Variable direkt auf die Bildungsaspirationen wirkt. Es ist zu erwarten, dass die Dimensionen in unterschiedlichen Kombinationen divergente Leistungsmilieus ausbilden, die wiederum auf Bildungserfolge verweisen.
Mit der folgenden Abbildung soll versucht werden, eine Annäherung an die damit unterstellten komplexen Bedingungszusammenhänge zu leisten. Die jeweilige Stärke der Pfeile symbolisiert den vermuteten Zusammenhang zwischen Leistungsmilieus, sozialer Herkunft/sozialer Lage und Bildungsoptionen.
Grafik Orientierungsmuster
Als untersuchungsleitende Thesen wurde zugrunde gelegt, dass
(1) der direkte Einfluss des Leistungsniveaus und der sozialen Herkunft auf Bildungsübergänge unterschiedlich stark ausgeprägt ist und die Bedeutung des Leistungsmilieus auf die Wahrnehmung von Bildungsoptionen in Bezug auf die Bildungsbiographie tendenziell zunimmt, wogegen der Einfluss der sozialen Herkunft nachlässt - ohne dass es sich hierbei um lineare Zusammenhänge handelt;
(2) der Einfluss von Leistungsmilieus vor allem bei der Wahl der weiterführenden Schule im Anschluss an die Grundschulzeit und beim Übergang zur Hochschule durch die soziale Herkunft überlagert wird,
(3) Leistungsmilieus nicht oder nicht mehr zwingend mit der Bildungsoption eines Hochschulstudiums korrelieren und sich Leistungsmilieus im Rahmen des Studiums unabhängig von der sozialen Herkunft im Hinblick auf die Fächergruppen unterscheiden und
(4) Leistungsmilieus wiederum unabhängig von der sozialen Herkunft mit dem Studienerfolg variieren.
Untersuchungsansatz und -design
Das geplante Projekt musste auf die Untersuchung ausgewählter Aspekte dieses Modells beschränkt bleiben. Im Vordergrund stand zunächst die Deskription unterschiedlicher Leistungsmilieus entlang der genannten Dimensionen. Daran anschließend sollte die Relevanz von Leistungsmilieus unter Berücksichtigung der sozialen Herkunft im Hinblick auf den Übergang von der Grundschule zu weiterführenden Schulen, der gymnasialen Mittel- zur Oberstufe sowie der wahrgenommenen Bildungsoption nach der Erlangung der Hochschulreife untersucht werden.
Schließlich sollte im Hinblick auf die These, dass der Studienerfolg im Wesentlichen auf den Einfluss von Leistungsmilieus und in geringerem Maße auf jenen der sozialen Herkunft zurückzuführen ist, die Studienmotivation, die Studiengestaltung und der Studienerfolg gemessen werden. Hierbei ist einschränkend anzumerken, dass eine Messung des Studienerfolgs aufgrund der zur Verfügung stehenden Daten nur indirekt - bspw. über den Stand des Studiums oder die bisherigen Studienleistungen - erschlossen werden konnte, da - so zeigen die Erfahrungen - Befragungen von Studierenden insofern systematischen Verzerrungen unterliegen, als z.B. Studienabbrecher, Hochschulwechsler oder Studierende, die das Studium nicht ernsthaft betreiben, kaum zu erreichen sind.
Die Untersuchung selbst wurde in Form quantitativer Befragungen von Schülerinnen und Schülern, Eltern sowie Studierenden durchgeführt. Befragt wurden im Anschluss an diese Vorüberlegungen relevante Auskunftspersonen an der Schnittstelle von Übergängen im Bildungssystem. Im Einzelnen sind dies
Eltern von Schülerinnen und Schülern der 4. Klassen an Grundschulen,
Schülerinnen und Schüler der 12. Jahrgangsstufe an Gymnasien und
Studierende ausgewählter Fächer und Fachbereiche, die bereits an einer Befragung im Rahmen eines Forschungsprojekts des Zentrums für Qualitätsentwicklung und -sicherung zu Fragen von Studienmotivation und Studienkultur teilgenommen haben.
Zur Untersuchung der Fragestellung wurden drei Zielgruppen definiert, wobei sich die erste Gruppe am Übergang von der Grundschule zur weiterführenden Schule und die zweite am Übergang von der gymnasialen Oberstufe zu Studium oder Beruf befinden sollte. Die dritte Zielgruppe sind Studierende, die bereits eine Studienfachwahl getroffen haben. Durch diese Auswahl ist es möglich, die Ergebnisse unterschiedlichen Stufen im Bildungssystem zuzuordnen und ihre Relevanz auf unterschiedlichem Entwicklungsniveau der Heranwachsenden zu vergleichen.
Insgesamt wurden folgende Befragungen durchgeführt:
- Postalische Befragung der Eltern von Viertklässlern
- Schriftliche Befragung von Schülerinnen und Schülern der 12. Jahrgangsstufe
- ostalische Befragung von Studierenden der Universität Mainz.
Das Verfahren der Eltern- und Schülerbefragung ist durch eine Klumpenauswahl auf Ebene der Schulen bestimmt, so dass Befragungseinheiten in Form ganzer Jahr-gangsstufen innerhalb einer Schule möglich wurden. Die Auswahlgesamtheit wurde zuvor nach regionalen Kriterien geschichtet und anschließend die Stichprobe zufällig ausgewählt.
Arbeitsgruppe
Das Projekt wurde in Kooperation mit dem Institut für Soziologie (Prof. Dr. Stefan Hradil) und dem Pädagogischen Institut (Prof. Dr. Franz Hamburger) an der Johannes Gutenberg-Universität realisiert.
Zentrale Ergebnisse der Untersuchung wurden veröffentlicht in :
Uwe Schmidt (Hg): Übergänge im Bildungssystem. Motivation - Entscheidung - Zufriedenheit. Wiesbaden 2006