Zu viel Stoff
Muss der Student wirklich so viel Stoff wissen? Wenn ich die Experten richtig verstanden habe, ist die klare Antwort: ja. Allerdings mit einer Ergänzung: Der "viele Stoff" muss gut strukturiert, wohl geordnet im Gedächtnis abgelegt sein. Diejenigen sind die besseren Problemlöser, die über Problemlösefähigkeiten verfliegen und (!) außerdem viel Wissen gut geordnet abgelegt haben, sozusagen als geeignetes Spielmaterial für ihren Geist.
Soll, muss man also in der Vorlesung "alles bringen"? Und durch den Stoff hetzen? Dozent: alles gebracht! - Student: nichts verstanden! Hetzen führt zum Eichörnchen-Studenten: Schon lange kommt er nicht mehr mit, aber er sammelt alles für später, wenn er einmal Zeit zum Lernen und Verstehen haben wird.
Wer Eichhörnchen in seiner Veranstaltung ortet, sollte an das Ziel denken: der Student soll einen bestimmten Stoff lernen, die Zusammenhänge verstehen, ihn einordnen und mit ihm umgehen können. Das kann auf verschiedene Weise erreicht werden, die Vorlesung ist eine, Zuhause-lernen eine andere. Jede Weise hat bestimmte Stärken, die Vorlesung z.B. die der sukzessiven Gedankenentwicklung, insbesondere wenn man mit Skizzen an der Tafel Prinzipien entwickelt. Anderes ist einfach zu büffeln. Das kann man besser (!) zu Hause tun.
Also: Einiges aus dem Stoff auslagern in die Hausarbeit, jedoch mit dem klaren Hinweis: Dies gehört zum Stoff Ich verspreche mir davon, dass die Studenten vom eichhörnchenartigen Sammeln wegkommen und online wirklich mitdenken. Unter dem Strich ein Zeitgewinn für sie! Das Material, das man für die Hausarbeit mitgibt, muss man allerdings exzellent aufbereiten.
Skelett und Fleisch
Menschen, die gut Probleme lösen können, wissen viel. Allerdings haben sie ihr Wissen nicht ungeordnet ins Gedächtnis gestopft, sondern es dort wohlgeordnet untergebracht: Nur bei hochwertig strukturierten "Ablagesystemen" können viele neue Verknüpfungen zwischen einzelnen Wissenselementen entstehen - die Basis für neue Erkenntnisse.
Was hat das für Konsequenzen für die Lehre?D
ie Gliederung, die der Dozent seiner Veranstaltung voranstellt, müsste mit den Strukturen des Studentengedächtnisses innig verknüpft werden. Das funktioniert in aller Regel zu diesem Zeitpunkt nicht, weil die einzelnen Gliederungsbegriffe noch nicht mit Stoff gefüllt sind, für den Studenten also noch nichts besagen. Folglich vermag er sie auch noch mit nichts zu verknüpfen.
Die Schwierigkeit besteht also darin, dass man einerseits die Gliederung am Anfang darstellen muss, um den roten Faden darzulegen, andererseits die Gliederung erst am Ende der Veranstaltung - bei Kenntnis des Stoffes für den Studenten hilfreich wird.
Es ist also wesentlich, sehr viel Wert und Zeit auf die Erläuterung der Gliederung zu legen, am Anfang, am Ende und auch im Laufe der Veranstaltung. Das gilt sowohl für eine Einzelveranstaltung wie auch für die Gesamtveranstaltung. In der Praxis wird man rasch feststellen, dass Anfängerstudenten bei solchen Erläuterungen nicht besonders aufmerksam sind (weil es da nichts zum Mitschreiben gibt).
Aber: Das Skelett ist es, das das Fleisch trägt.
Akustisch gliedern
Wenn wir einen Artikel schreiben, setzen wir die Überschrift deutlich vom Textkörper ab. Wenn ein neuer Abschnitt folgt, beginnen wir eine neue Zeile, machen dazwischen vielleicht sogar eine Leerzeile oder rücken die erste Zeile ein. All das hilft dem Leser, die Struktur des Artikels rascher zu erfassen. Es ist einfach eine visuelle Gliederung, die auf einer zweidimensionalen Fläche dargestellt wird.
Beim Reden haben wir diese Möglichkeit nicht. Die akustische Information fließt im wesentlichen sequentiell dahin, ist also eindimensional. Um dabei die notwendige Gliederung "sichtbar" zu machen, müssen wir zusätzlichen Aufwand treiben.
Ausdrücklicher Hinweis, Betonung, Pause, Rückblick, Vorausschau, Folienwechsel, Medienwechsel, Tafelwischen, Standortwechsel, ..... davon sollten wir zu diesem Zweck gezielten und ausgiebigen Gebrauch machen.
Aus unseren Lehrberatungen wissen wir: Für die Struktur tun fast alle Dozenten zu wenig. Der Grund ist wohl, dass uns als Vortragenden die Struktur ganz klar und selbstverständlich ist, also legen wir auf ihre Herausarbeitung keinen Wert mehr. Wir übersehen, dass der Student diese Dinge zum ersten Mal hört und daher Ordnung und Gliederung besonders notwendig braucht, um den neuen Stoff zu erfassen.
Denken geht nicht nur geradeaus
Von meinem Großvater habe ich ein dreibändiges "Weltreich der Technik" geerbt. Es stellt die Entwicklung der Technik aus der Sicht von 1925 dar, natürlich ohne zu wissen, wohin sie sich weiterentwickeln würde. Heute ist das bekannt, und es ist äußerst lehrreich zu lesen, welche "Irrwege" damals fachkundig diskutiert wurden.
Unseren Studenten präsentieren wir die Naturwissenschaften und die Technik als eine Entwicklung, die vollkommen logisch und konsequent, zielstrebig und schnurgerade bis zum modernsten Stand führt. Von den unzähligen Irrwegen erfahren sie in der Regel nichts, dazu haben wir gar keine Zeit.
Unbewusst entnimmt der Student daraus, dass sämtliche Entwicklungen so verlaufen, dass auch sein eigenes Denken so verlaufen muss. Weil er es an sich selbst aber ganz anders erlebt, weil er "Fehler über Fehler" macht, die "nicht sein dürfen", weil er in fast jeden Irrweg hineinrennt, weil das aber offenbar nicht-normal ist, erlebt er sein eigenes Denken, sein Studium vielfach als Frust - anstatt sich über seine Kreativität zu freuen.
Erzählen wir in unserer Lehre ab und an etwas von den Irrwegen, zeigen wir die Folie eines Luftschiffes, das wie eine römische Galeere mit Rudern angetrieben wird. Solche "Luftschiffe" gibt es in jedem Fach. Vielleicht sind sie nicht nur Irrweg, sondern regen zum Nachdenken an, sind Ausgangspunkt für Neues, machen Mut zur eigenen Kreativität.
Definitionen
Ein Kennzeichen der Wissenschaft ist ihre Exaktheit. Das beginnt mit den Definitionen der Begriffe: es ist unabdingbar, sie sehr sauber einzuführen und dann auch sehr streng zu verwenden.
Das gilt ganz besonders bei Anfängern, denen das "Rumreiten auf den Definitionen" meist ziemlich pingelig vorkommt. Höhere Semester haben in der Regel schon mitbekommen, wie wichtig die Definitionen sind. Sie haben eben schon erlebt, dass verschiedene Autoren mit dem gleichen Wort verschiedene Dinge meinen. Für den Anfänger ist das eine mittlere Katastrophe, er will alles exakt und streng einheitlich haben an sich ja kein schlechtes Prinzip.
Ich kann mich gut erinnern, wie irritiert ich als Student war, als in einer Vorlesung ganz beiläufig ein neuer Begriff "erfunden" wurde. Bis dahin hatte ich immer geglaubt, dass die Begriffe gewissermaßen gott-gegeben, also einfach vorhanden und damit unverrückbar fest definiert sind. Nun wurde mir bewusst, dass sie von Menschen gemacht waren und dass man sie auch anders definieren konnte. Für den Wissenschaftler selbstverständlich - für den Anfängerstudenten aber gar nicht.
Vielleicht definieren wir in der nächsten Veranstaltung einen ganz neuen, bisher unbekannten Begriff - einfach mal so, zum Erweitern des geistigen Spektrums.
Baustelle
Lebenslanges Lernen - das bedeutet: Studenten sollen lernen, ständig und immer wie auf einer Baustelle zu leben. Ihr Lernen wird nie abgeschlossen sein. Das sollten wir ihnen gleich von Anfang an deutlich machen und ihnen Hilfen an die Hand geben, ihr Baustellenbüro zweckmäßig einzurichten.
Für Architekturstudenten ist Holzbau sicher nur eines von mehreren Gebieten. Also hat der Lehrstuhl einen Ordner herausgebracht, in den nach und nach wichtige Daten und Grundlagen über Holzbau hineinkommen. Zunächst steht er auf dem Studentenschreibtisch, wird zu Übungen benutzt, zur Prüfung herangezogen, und schließlich kann er auch im Berufsleben auf dem Schreibtisch stehen.
Es ist ein Ordner, manches Blatt kommt dazu, andere fliegen wieder heraus; wie es eben so geht - eine persönliche Wissensbasis im Wandel der Zeit.