Québec

Mit dem Dijon-Programm in Sherbrooke, Québec (Kanada)

Quebecer und kanadische Fahne in Québec-Stadt
Quebecer und kanadische Fahne in Québec-Stadt

Als Geschichtsstudent in Kanada zu studieren leuchtet zunächst nicht jedem ein. "Welche Geschichte denn?", mag sich der ein oder andere fragen.
So auch eine eher widerstrebende Haltung von Seiten meines Mittelalter-Dozenten in Dijon, der mir ein Empfehlungsschreiben erstellen sollte: „Pourquoi vous allez faire vos études au Canada et ne pas en Italie, à Bologne?“
Der Hinweis, dass es auch eine Geschichte jenseits des Mittelalters gibt hat mich dann beinahe mein Empfehlungsschreiben gekostet…

Nach längerem Kampf mit diversen Visa-Behörden (Voraussetzung für die Studienerlaubnis in Kanada ist eine Aufenthaltserlaubnis in der Provinz Québec) landete ich dann tatsächlich Ende September in Montréal, nach spektakulärem Landeanflug über knallrote Ahornwälder.
Aufgrund einer längeren Streikphase, die sich gegen die Erhöhung der Studiengebühren in Québec richtete und sich ab Frühling 2012 zu einer regelrechten sozialen Bewegung ausgeweitet hatte,  war der Studienbeginn um einen Monat verschoben worden. Dies kam mir entgegen – meine Studienerlaubnis war erst kurz vor Abflug eingetroffen.

Blick vom Mont Royal auf Downtown
Blick vom Mont Royal auf Downtown Montréal

 Montréal konnte ich in den drei Tagen nach Ankunft (wieder)entdecken (ich hatte schon in der 11. Klasse ein Auslandsschuljahr am anglophonen John Abbot College verbracht): Eine wunderschöne, kosmopolitische Großstadt, die für viele die Vorteile New Yorks und Paris in einer Stadt vereint. Dies gilt auch aus sprachlicher Sicht, da sich die Stadt (grob entlang des Boulevard St. Laurent) in überwiegend frankophone und anglophone Stadtteile aufteilen lässt. So ist man ständig am Sprachen wechseln und als Neuankömmling dabei leicht überfordert.

Der "Lac des Nations" mit kleinem Weihnachtsmarkt
Winterliches Sherbrooke - Der "Lac des Nations" mit kleinem Weihnachtsmarkt

Mit dem Bus ging es dann in das etwa 200 km entfernte Sherbrooke, eine mittelgroße Regionalhauptstadt  von ca. 150 000 Einwohnern. Hier, in den hügeligen „Cantons de l’Est“ sollte ich also die nächsten 8 Monate studieren.

Eine Wohngemeinschaft hatte ich mir schon per Skype von Deutschland aus organisiert und ich wurde herzlich willkommen geheißen von meinen 5 Mitbewohnern, mit denen ich ein kleines Häusschen im Stadtzentrum bewohnen sollte: zwei Franzosen, je ein anglophoner und ein frankophoner Québécois und ein Kolumbianer, der an der anglophonen Bishop University studierte. An den ständigen Sprachenwechsel sollte ich mich dann erst nach ungefähr zwei Wochen gewöhnen.
Kleine, diverse Verständnisprobleme mit dem deftigen, jedoch liebenswerten „québécois“, der franko-kanadischen Sprachvarietät des Französischen, hielten jedoch, vor Allem im Umgangssprachlichen, oft bis zum Schluss an.
So der Busfahrer, der mich am ersten Tag kostenlos mitfahren lies, da er nicht auf Scheine herausgeben konnte: „[aʃɛit mwe yn bjɛr]“ (Kauf mir doch einfach nächstes Mal ein Bier).
An der Université de Sherbrooke wurde ich zu den Einführungstagen dann auch mit Bier empfangen – tatsächlich habe ich noch nirgends, nicht einmal in Deutschland, so viele begeistert Bierkenner und -trinker getroffen wie in Québec.

Als im Winter radfahrender Deutscher schafft man es in Sherbrooke sogar auf die Begrüßungsseite der Uni-Homepage
Als im Winter radfahrender Deutscher schafft man es in Sherbrooke sogar auf die Begrüßungsseite der Uni-Homepage

An den kanadischen Universitätsalltag gewöhnt man sich (zwangsläufig) schnell. Insgesamt kann man nur fünf Kurse pro Trimester belegen, und diese sind dann so arbeitsintensiv, dass viele auch nur vier belegen. Von Anfang an müssen Essays, kleine Hausarbeiten oder andere Arbeitsaufträge abgegeben werden, die alle in die Endnote mit einfließen. Bei den Kursen wird nicht zwischen Seminar und Vorlesung unterschieden – größere Hausarbeiten schreibt man aber vor allem in den sogenannten „activités de recherches“ wo zu einem bestimmten Thema geforscht wird. Die Kursgruppen sind kleiner als in Deutschland (zwischen 10 bis max. 40 Studenten) und die Dozenten, als auch die Studierenden,  versprühen eine Motivation, die anfangs nahezu beängsitgend wirkt. Die Themen sind auch allesamt sehr spannend – so belegte ich u.A. Geschichte Kandas bis 1840, Geschichte des zeitgenössichen Afrikas, Geschichte des osmanischen Reichs, Geschichte des traditionnellen Chinas – allessamt Themenbereiche die mir gänzlich neu aber dafür umso spannender waren.
Angenehm ist auch das entspannte Beziehungsverhältnis zwischen Dozenten und Studierenden, das in krassem Gegensatz zum autoritären Lerhstil in Frankreich aber auch in Deutschland steht. Die meisten Dozenten bieten Ihren Studenten das „Du“ an und auch in den Sprechstunden begegnet man sich auf Augenhöhe.
So wurde mir auch im zweiten Trimester ein Hiwi-Job in der Forschung angeboten bei dem ich deutsche Kolonialberichte auf den Forschungsschwerpunkt meines Dozenten hin untersuchen durfte.

Einmal in Kanada, erweist sich die Bürokratie als weit effizienter als man nach dem Visastress hätte annehmen können und ich hatte nie Schwierigkeiten mit der Univerwaltung, Bankeröffnung, Arbeitsvertrag oder auch Autokauf.

Tatsächlich lohnt es sich in Kanada für ein Jahr ein gebrauchtes Auto zu kaufen (ich konnte meines auch fast für Kaufpreis auch wieder verkaufen), da viele Ziele nur so erreichbar sind.
So kam bei mir dann auch die Natur nicht zu kurz: Im Winter habe ich zusammen mit Franzosen und Kanadiern einen Saisonskipass und eine Fahrgemeinschaft, in die nicht weit entfernten Skigebiete um Sherbrooke, aber auch in Vermont, USA, organisiert. Im Sommer ging es dann vor allem zum Kanuwandern oder in kleine „chalets“ am See.
Auch der von der Uni angebotene „Club de Plein Air“ hat viele spannende Ausfahrten angeboten  von Apfelplücken über Schneeschuhwandern bis Kanuwochenende.
Der schrecklich angekündigte kanadische Winter war dann letztendlich gar nicht so schlimm: höchstens drei Wochen lagen bei unter -25° C, wobei die Kälte angenehm trocken ist und auch meist dabei die Sonne scheint.

Schneeschuhwandern am Mont Mégantic
Schneeschuhwandern am Mont Mégantic

Je mehr man sich mit der sehr speziellen quebecer Identität auseinandersetzt, desto mehr schließt man diese auch ins Herz. Die herbe Sprache, das deftige Essen (Nationalgericht ist die „poutine“ – in Bratensoße getränkte Pommes mit frischem Cheddar), das gesunde „National“-Bewusstsein für die „Nicht-Ganz-Nation“ Québec, aber auch der Stolz auf den gemeinsam erreichten Gesellschaftswandel in den 1960er Jahren, von einer traditionellen, katholischen und ländlichen Gesellschaft hin zu einem der liberalsten Flecken der Welt – all das macht den Umgang mit Quebecern besonders erfrischend. Montréal als Zentrum der nordamerikanischen Frankophonie bietet dabei ein kulturelles Angebot und eine kosmopolitische Vielfalt, die man so selbst in Europa nicht findet.

Blick von den "Plaines d'Abraham"auf das Château Frontenac.  Hier fand 1759 die entscheidende Schlacht statt, die dem britischen General Wolfe gegen dem französischen Kommandanten Montcalm den Sieg einbrachte. Dies bedeutete das Ende der französischen Kolonie Nouvelle-France und der Beginn der britischen Vorherrschaft in Québec.
Blick von den "Plaines d'Abraham"auf das Château Frontenac.
Hier fand 1759 die entscheidende Schlacht statt, die dem britischen General Wolfe gegen den französischen Kommandanten Montcalm den Sieg einbrachte. Dies bedeutete das Ende der französischen Kolonie Nouvelle-France und der Beginn der britischen Vorherrschaft in Québec.

So entschied ich mich nach Ende meines Studiums im Mai, noch ein paar weitere Monate zu bleiben, das Jahr „komplett“ zu machen. Einen Monat reiste ich mit dem Auto durch Québec, bis hin zur Mündung des St. Lorenzstroms in der Gaspésie, einen Monat lebte ich in einem anglophonen Viertel im sommerlichen Montréal, und zwei Monate verbrachte ich auf einem epischen Road-Trip von New York nach Seattle, und von Vancouver Island quer durch Kanada zurück nach Montréal, mich mit Gelegenheitsarbeiten durchschlagend und die unberührte Natur in vollen Zügen genießend.

Der Rückflug am 1. September läutete dann das vorläufige Ende meines franko-amerikanischen Traumes ein. Die amerikanischen und kanadischen Weiten haben mir in diesem Studienjahr auf jeden Fall neue Horizonte erweitert.

 

Bärenbegegnung in der Gaspésie
Bärenbegegnung in der Gaspésie
Unterwegs im Jasper National Parc
Unterwegs im Jasper National Parc

Urs Gröner