Salut tout le monde, die amerikanischen primaries sind derzeit in aller Munde und auch mein aktueller Beitrag wird nicht komplett ohne sie auskommen, da ich mich für die semaine de relâche unter anderem nach Washington, ins politische Herz der amerikanischen Demokratie, gewagt habe. Bevor ich mich aber mit den Großen und Mächtigen dieser Welt auf ein imaginäres tête à tête treffen konnte, standen die sogenannten examens de mi-session an, die Klausurenrunde, die das kanadische Trimester in zwei Hälften teilt.
Montags ging es los mit einer dreistündigen Klausur in Amerikanischer Geschichte. Im Rahmen des Kurses hatte ich die Autobiographie von Frederick Douglass (wahrscheinlich 1818- 1895), einem befreiten Sklaven, gelesen, in der er ausführlich über seine Existenz als Unfreier berichtet. Die zu seiner Zeit populären und besonders in den Nordstaaten zirkulierenden Berichte befreiter Sklaven waren allerdings oft gefälscht und wenig glaubwürdig. Um zu beweisen, dass das von ihm erlebte, authentisch ist, bemüht sich Douglass in seinem Buch darum, möglichst viele Namen, Daten, Orte exakt zu benennen.
Im ersten Teil der Klausur musste ich präzise Fragen zu Douglass‘ Werk beantworten, um im zweiten Teil eine Dissertation zum Thema Union-Désunion der „Vereinigten Staaten“ von der Kolonialperiode bis zur Präsidentschaft Jacksons in der Mitte des 19. Jahrhunderts, zu verfassen. Ich habe mich der Fragestellung gewidmet, wie aus dem pluribus der Kolonialzeit ein unum werden konnte. Für die Zeit, die der Unabhängigkeit unmittelbar vorausgeht, habe ich den allmählichen Prozess der kulturellen Loslösung der Kolonie vom Mutterland als Faktor der Union ausgemacht. Für die Zeit nach der Unabhängigkeit habe ich das Manifest Destiny und die Ausdehnung der USA nach Westen als vereinende Elemente aufgeführt.
Meine Klausur zur Geschichte Chinas empfand ich als weniger anspruchsvoll, da man hier lediglich einige präzise Fragen à la unter welchem Namen ist der 2. Opiumkrieg in der englischen Geschichtsschreibung bekannt? (Arrow War) beantworten musste. Anschließend galt es 3 Fragen ausführlicher zu behandeln, etwa woran die erste chinesische Republik gescheitert ist (warum musste ich hier sofort an Weimar denken?)
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Vom „fernen Osten“ ging es gedanklich anschließend in den „Mittleren Osten“ als ich im Rahmen meiner Klausur zu den Politischen Systemen des Mittleren Osten die politische Ideologie des Panarabismus und des Panislamismus miteinander vergleichen und herausarbeiten sollte, inwiefern es sich hierbei eher um politische Utopien handelt. Und zu guter Letzt durfte ich mich noch über den Gegensatz zwischen Laizismus und Islamismus, der die Türkei und die türkische Politik seit der Staatsgründung 1923 prägt, auslassen.
Abgerundet wurden meine akademischen Ergüsse von einer Linguistik Klausur zum Thema Quebecer Französisch. Hier ging es vor allem darum, heraus zu arbeiten, inwiefern sich die politischen Verhältnisse Quebecs seit seiner Zeit als französische Kolonie bis in die heutige Zeit auf die Sprache, auf das linguistische Selbstverständnis der Sprecher ausgewirkt hat. Außerdem musste ich grammatische und phonetische Besonderheiten des Quebecer Französisch in einem Tintin- Comic identifizieren und analysieren.
Anders als vor allem meine französischen Freunde vor Ort denken, zeugen die „Eigenheiten“ des Quebecer Französisch nicht etwa von Unkenntnis der französischen Sprache (etwa wenn man hier im Quebec von une escalier spricht und nicht, wie in der hexagonalen Varietät üblich, von un escalier), sondern sind dies noch Spuren eines historisch sehr lange belegbaren Femininums vieler Wörter. Übrigens kann man dieses Phänomen auch noch in einigen französischen Regionen beobachten.
Wie ihr euch vielleicht denken könnt, hab ich nur deshalb so ausführlich von meiner stressigen Klausurenphase erzählt, um rechtfertigen zu können, warum ich anschließend für über eine Woche meinen Rucksack geschnappt und Uni Uni sein lassen habe.
Die erste Etappe meiner Reise: Boston. Die Stadt ist von Montreal aus bequem mit dem Bus zu erreichen. Für 3 Tage wandelte ich wortwörtlich (nämlich auf dem sogenannten freedom trail), auf den Spuren der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung. Der etwa 5 Kilometer lange Parcours führt auch an jenen Ort, der Boston berühmt gemacht hat: Die Ecke des Hafen, an der aufgebrachte Bostoner Bürger kistenweise Tee über Bord geworfen haben, um damit ihren Unmut gegen den Tea Act zum Ausdruck zu bringen und sicherlich nicht mal im Traum daran gedacht hatten, dass dieses Ereignis mal als Tea Party in die Geschichte eingehen sollte.
Im Falle der fast schon klischeehaft anmutenden Collegeparty bei meinem Couchsurfer (die ihren Abschluss tatsächlich mit dem Eintreffen der Cops fand), bin ich mir allerdings ziemlich sicher, dass diese nicht Gegenstand geschichtswissenschaftlicher Untersuchungen werden wird.
Das nächste Ziel auf meiner Reise war Washington, oder wie ich sagen würde, die Stadt, in der die amerikanische Identität, auf einige wenige Quadratkilometer komprimiert, erlebbar wird. Uns erwarteten 3 Tage voller Sightseeing und Museen, die studentenfreundlicherweise fast alle gratis sind.
Der Besuch des Nationalarchivs war besonders aufregend, da dieses die Unabhängigkeitserklärung, die amerikanische Verfassung und den Bill of Rights beherbergt. Mit Herzklopfen habe ich das we, the people auf einer der Schriftrollen erkannt.
Ironischerweise, wie ich zumindest finde, wurde das Heiligtum der amerikanischen Nation ausschließlich von Menschen bewacht, die auch heute noch, nicht als gleichberechtigter Teil, des we anerkannt werden bzw. dementsprechend behandelt werden: „Afroamerikaner“.
Daran hat auch die Präsidentschaft Obamas nichts geändert.
Wer sein Nachfolger oder seine Nachfolgerin wird, wurde in Washington zu jedem Anlass diskutiert, ob beim Essen, in der U-Bahn oder in der Kneipe um die Ecke. Ich hatte das Glück, bei einer Freundin und ihrem amerikanischen Freund unterzukommen und habe somit auch einen inneramerikanischen Blick auf die Wahlen bekommen können. Den super tuesday habe ich unweit des Kapitols vor dem Fernseher verbracht und Bernie Sanders die Daumen gedrückt. Am Ende der Auszählungen überwiegte jedoch die Enttäuschung über das gute Abschneiden Trumps im Lager der Republikaner.
Mit einer Menge neugewonnener Eindrücke machte ich mich mittwochabends auf meinen Rückweg nach good old Canada. Mit dem ersten quebec-französisch gefärbten Wort des Grenzbeamten fühlte ich mich wieder zu Hause. Nach Hause, also nach Sherbrooke, sollte es allerdings erst am Sonntag gehen, denn die letzten freien Tage habe ich in einem Ferienhaus am Ufer eines eingefrorenen Sees in einem verschneiten kanadischen Dorf verbracht. Fernab von jeglicher „Zivilisation“, ohne Internet, aber dafür mit ganz viel frischer Luft, Schneeschuhwanderungen und Skifahren.
PS: Für jene frankophonen Menschen unter euch, die es interessiert, hänge ich den Link eines Artikels an, den ich für die aktuelle Ausgabe der Campuszeitung Le Collectif geschrieben habe:
http://www.lecollectif.ca/linfidelite-service-de-lentente-entre-peuples/