Geschichte

Mein Auslandssemester in Galway, Irland (WiSe 2024)

Meine eiskalten Hände umklammern die Stäbe des Schaftransporters, während der Fahrer ungeachtet seiner menschlichen Fracht mit vollem Tempo durch die kurvenreichen Straßen Connemaras saust. Während ich zwischen Unglauben und Belustigung schwanke, denke ich, dass diese Erfahrung meinen Irland-Aufenthalt wohl am besten zusammenfasst: die unglaubliche Hilfsbereitschaft der Iren, die Abenteuerlust und die Bereitschaft unkonventionelle Lösungen dankend anzunehmen. Wie ich in diese Situation gekommen bin? Dazu später mehr! Zunächst einmal zurück zum Anfang: zu der Entscheidung, ein Erasmus-Semester in Irland zu machen.

Organisation und Anreise
Zugegebenermaßen habe ich in meinem Studium über den cursus intégré viel Zeit im frankophonen Ausland verbracht. Und während Französisch immer meine Herzenssprache bleiben wird, so wollte ich mein Englisch nicht ganz vernachlässigen und vor allem meine „englische Persönlichkeit“ entdecken, um mich beim Sprechen wohler zu fühlen. Die Entscheidung, mich für ein Erasmus-Semester in Galway zu bewerben, habe ich sehr spontan und ohne viel Hoffnung getroffen – nur um mich dann umso mehr zu freuen, als ich überraschenderweise angenommen wurde. Die ganzen administrativen Schritte wurden zum Glück rechtzeitig von der JGU bzw. von der Partneruniversität kommuniziert und waren daher gut machbar. Die einzige wirkliche Schwierigkeit war die Wohnungssuche: Irland leidet unter einer gravierenden Wohnungskrise. Wer so wie ich einen (sehr teuren) Wohnheimsplatz in der Lotterie ergattert, hat daher das große Los gezogen.
Irland ist eine Insel, demnach ist es natürlich etwas schwieriger, aber umso lohnender so grün wie möglich anzureisen. Ich bin über London und Holyhead nach Dublin gefahren, eine sehr empfehlenswerte Strecke. Da ich mich bereits kurz nach der Abgabe meiner letzten Hausarbeit auf den Weg nach Irland gemacht habe, war es sehr hilfreich zwei Anreisetage zur mentalen Vorbereitung auf das Auslandssemester zu haben.

Die University of Galway / Ollscoil na Gaillimhe

Das Hauptgebäude der University of Galway

Die Universität ist bei ausländischen Studierenden sehr beliebt – kein Wunder, bereits bei den Einführungsveranstaltungen wurden wir sehr herzlich willkommen geheißen. Folglich war es gar nicht so leicht einen der begrenzten Plätze in den Geschichtskursen zu bekommen. Ich habe mich daher auf Kurse aus den Celtic Studies konzentriert und habe sehr interessante archäologische, linguistische und historische Einblicke in keltische Kulturen bekommen. Ergänzt wurde der Ansatz durch einen Kurs in Irish Studies, wo wir über das Verständnis von place in der irischen Literatur gesprochen und insbesondere das Spannungsverhältnis zwischen prächristlichen und christlichen Vorstellungen thematisiert haben. Ich konnte zudem einen Geschichtskurs über Globalisierung belegen und ein Seminar zur irischen Familiengeschichte. Ich würde immer empfehlen, so viele Irland-spezifische Kurse wie möglich zu belegen. Natürlich ist man zunächst einmal nicht auf dem gleichen Wissensstand wie die irischen Kommiliton*innen, dafür bekommt man aber ein gutes Gefühl dafür, welche Themen die Iren aktuell beschäftigen und welche Emotionen bei traumatischen historischen Ereignissen mitschwingen. Die Hungerskatastrophe von 1845-48 hat so für mich eine ganz andere Bedeutung gewonnen: lange Zeit habe ich sie als Katastrophe unter vielen betrachtet, in der irischen Geschichte stellt sie aber eine bedeutende Zäsur dar.
In fast allen Kursen hatte ich mid-term-Abgaben. Der Vorteil ist natürlich, dass man mehrere Noten bekommt und bei den finals auf dem Feedback der Professor*innen aufbauen kann. Die Abgaben sind zudem oft nicht besonders lang (1.000 bis 2.000 Wörter) und viele Professor*innen ermöglichen eine lange Bearbeitungszeit. Im Seminar fällt generell mehr Arbeit an, hier wurden zudem noch die mündliche Mitarbeit und eine Präsentation bewertet. Insgesamt sind die Professor*innen sehr hilfsbereit. Bei Nachfragen bezüglich Abgaben oder Klausuren wurde immer sehr schnell und ausführlich geantwortet und es ist wohl sogar möglich, einen Aufschub einer Abgabefrist zu beantragen, wenn zu viele Dinge auf einmal anstehen.
Doch die irische Universitätskultur besteht aus sehr viel mehr als den Kursen, insbesondere die zahlreichen Clubs und Societies führen zu einem sehr abwechslungsreichen Alltag.

Clubs & Societies
Mit 125 aktiven Societies bietet die University of Galway ein sehr breites Angebot der Freizeitgestaltung. Neben fächerbezogenen Societies (denen aber jeder unabhängig vom Studiengang beitreten kann) gibt es beispielsweise eine Taylor Swift-, eine Amnesty-International-, eine Dance- und eine Granny-Society. Die Societies werden von Studierenden initiiert und geführt und sind daher mal mehr, mal weniger aktiv. Die History Society (Cumann Staire) hat beispielsweise einen Vortrag angeboten und sich ansonsten hauptsächlich auf social nights (sprich: Barabende) konzentriert. Die Dance-Society hatte dagegen verschiedene Kursprogramme erstellt, die man während des Semesters ausprobieren konnte. Beim Society Day stellen sich viele Societies vor und man kann direkt beitreten oder sich per E-Mail über Veranstaltungen informieren. Das ist zunächst einmal keine Verpflichtung zu irgendetwas, es ist daher empfehlenswert verschiedenen Societies beizutreten und dann zu schauen, wie aktiv man sich beteiligen möchte. Abgesehen von den Kursen der Dance-Society sind die meisten Gruppen auch kostenlos. Insgesamt habe ich die Societies als tolle Gelegenheit wahrgenommen, andere Studierende kennenzulernen – man teilt ja zumindest ein Interesse. Meine einzige Enttäuschung war Cumann Gaelach, die irische Society, der ich voller Motivation mich so gut wie möglich zu integrieren, beigetreten bin. Da aber sämtliche Kommunikation nur auf Irisch stattfand und sich meine Irisch-Kenntnisse auf einige wenige Wörter beschränken, habe ich leider nie herausgefunden, wann die Treffen stattfinden sollten. Gerade wer sich für Traditionen anderer Kulturen interessiert, kann die Augen bezüglich der Angebote der Indian Society, Mexican Society und Indonesia Society (um nur einige Beispiele zu nennen) offenhalten. An bestimmten Fest- und Feiertagen finden größere Aktionen statt, an denen auch Interessierte aus anderen Ländern willkommen sind.

Ein Altar der Mexican Society anlässlich des Día de los Muertos

Auch das Sportangebot der Universität ist sehr breit gefächert. Verschiedene Clubs bieten mehr oder weniger leistungssportorientierte Sportarten an. So konnte ich Windsurfen ausprobieren und an einigen wunderbaren Wanderungen des Mountaineering Clubs teilnehmen. Gerade die Wander-Gruppe ist hervorragend organisiert. Jeden Sonntag (außer bei Sturmwarnung) wird ein Bus gemietet, um in die Connemara zu fahren, wo die ganze Truppe im weglosen Terrain einen Berg hochstapft. Natürlich muss man sich auf die irischen Wetterverhältnisse einstellen: nicht selten haben wir den ganzen Tag hauptsächlich Wolken gesehen, sind im Regen und bei heftigem Wind mit unserem Mittagessen in der Hand durch das Moor gestapft bzw. gerannt und haben unsere Vorstellungen von Spaß ernsthaft hinterfragt. An anderen Tagen hat uns die Novembersonne positiv überrascht und die atemberaubende Aussicht höchst beeindruckt. In der Regel starten zwei bis drei Gruppen mit unterschiedlichem Geschwindigkeits- und Schwierigkeitsgrad. Bei einem Torture hike mussten wir aufgrund einer leicht verletzten Teilnehmerin etwas früher absteigen und fanden uns in einem kleinen Dorf wieder. Die Bewohner hatten volles Verständnis dafür, dass wir die anderen Gruppen noch im Stamm-Pub des Mountaineering Clubs treffen wollten und um uns fünf weitere Kilometer auf der Straße zu ersparen, luden sie uns kurzerhand in ihren Schafttransporter ein. So klammerten wir uns an den Wänden fest und flitzten in Höchstgeschwindigkeit zum Pub – definitiv eine besondere Erfahrung, die daher als Einstieg für diesen Beitrag herhalten musste.

Eine wunderschöne Wanderung in den Sheeffry Hills mit dem Mountaineering Club

Coldvember
Nicht nur bei den Wanderungen wagen sich die Iren in das eher ungemütliche Wetter, im November wird der Witterung höchst motiviert getrotzt und gefühlt die halbe Universität trifft sich bei Sonnenaufgang zum Schwimmen. Ich bin zugegebenermaßen nur einmal die Woche in das doch sehr kalte Wasser gesprungen, doch es war definitiv sehr lohnenswert! Einmal hat es sogar geschneit, nachdem ich es barfuß über den Schnee geschafft hatte, hat sich das ca. 8-Grad kalte Wasser beinahe warm angefühlt. Auch der Coldvember passt für mich zur irischen Mentalität: man kann aus allem eine Party machen und von ein bisschen schlechtem Wetter lässt man sich ganz bestimmt nicht aufhalten!

Ein sehr kalter Coldvember-Tag

Musik und Tanz
Galway scheint aus Musik zu bestehen: in den Straßen und in den Pubs wird ständig Live-Musik gespielt. Wer sich für traditionelle Musik interessiert, ist hier natürlich am richtigen Ort. Ich bin zugegebenermaßen keine große Bier-Trinkerin und dachte daher, dass ich die Pubs eher meiden würde. Tatsächlich habe ich einen nicht unbedeutenden Teil meiner Freizeit in Cafés, Teehäusern und Pubs verbracht, weil hier ein Großteil des Soziallebens stattfindet. Pubs fühlen sich häufig an wie große Wohnzimmer, in denen man abends zusammenkommt, um sich auszutauschen, Musik zu hören und zu tanzen. Es wird oft nicht als unhöflich betrachtet nichts zu trinken. Einer meiner Lieblingspubs ist der Crane, ab 21h30 wird dort Trad Music gespielt. Insbesondere samstags platzt der kleine Raum aus allen Nähten, gerade dann sind tolle Musiker vor Ort. Auch wenn die Musiker natürlich im Zentrum stehen, darf nahezu jeder spontan singen und tanzen, wodurch es ein gemeinsames Musikerlebnis wird. Einer meiner schönsten Irland-Momente ist mit diesem Pub verknüpft: Ich habe in Galway sowohl an der Universität (über die Dance Society) als auch in der Stadt (über den Céili-Club) Céili-Tanzstunden genommen. Es handelt sich um Set dances, die in der Regel mit acht Personen getanzt werden. Die meisten Bekanntschaften habe ich insbesondere über den Céili-Club geschlossen, eine sympathische Gruppe mit unglaublich liebenswerten Tanzlehrern. Nach dem Kurs wird montags immer im Thirteen on the Green getanzt, zudem treffen sich einige der erfahrenen Tänzer*innen immer donnerstags ab 21h30 im Monroes. Wer sich die Tänzer also lieber nur von außen anschauen möchte, ist dort am richtigen Ort. Einmal wurden wir im Crane aufgefordert zu tanzen, was ein unglaubliches Erlebnis war, zumal ich bei jedem weiteren Besuch von den Musikern erkannt und gefragt wurde, ob ich wieder tanzen würde. In der Musikszene von Galway als Céili-Tänzerin bekannt zu sein, hat mich definitiv sehr stolz gemacht, auch wenn ich natürlich weit davon entfernt bin, all die Tänze sicher zu beherrschen.

Ein spontaner Céili-Abend im Crane
Der Céili-Kurs der Dance-Society

Ausflüge und Reisen
Ich kann mich generell nur schwer an einem Ort wohlfühlen, wenn ich kein Fahrrad zur Verfügung habe, daher habe ich an meinem ersten Tag in Galway sofort ein günstiges Rad gekauft. Wirklich Radwege gibt es leider nicht und auch an den Linksverkehr musste ich mich erst gewöhnen, doch bei dem unzuverlässigen öffentlichen Verkehr war es definitiv eine richtige Entscheidung. Manche Erasmus-Studierenden haben mir erzählt, dass sie in der gesamten Zeit nur drei oder vier Mal am Meer waren, dank meines Fahrrads konnte ich drei bis vier Mal in der Woche am Meer vorbeifahren.

Sonnenuntergang bei Salthill

Im Vergleich zu meinen anderen Auslandsaufenthalten bin ich relativ wenig durch das Land gereist – in Galway und durch die Ausflüge des Mountaineering-Clubs gab es genug zu erleben und zu sehen. Ein paar Ausflüge sind dennoch erwähnenswert.
Ich bin mit der Fähre in Dublin angekommen, daher konnte ich mir die Stadt etwas ansehen. Gerade die Museen (insbesondere das Archäologie-Museum und die Burg) sind sehr empfehlenswert. Wenn man kein Auto zur Verfügung hat, können von Galway aus geführte Touren zu den Cliffs of Moher und zur Kylemore Abbey gebucht werden. Zudem kann man mit Bus und Fähre zu einer der drei Aran-Islands fahren. Ich selbst war nur auf den beiden kleineren (Inishmaan und Inisheer), beide Ausflüge haben mir sehr gut gefallen.

Cliffs of Moher

Mit meiner Familie, die mich im Herbst besucht hat, habe ich einen kleinen Roadtrip zur Dingle-Halbinsel, nach Cashel und Glendalough gemacht, eine Reise, die ich wärmstens empfehlen kann. Die Dingle-Halbinsel bietet atemberaubende Landschaften und interessante historische Stätten wie das Gallarus-Oratorium, eine hohe Dichte an Ogam-Stones (Inschriften in einem an primitive Irish angepassten Schriftsystem) sowie prähistorische Siedlungen. Glendalough zeugt von der bedeutenden monastischen Kultur des mittelalterlichen Irlands, gelegen in den Wicklow-Mountains lädt der Ort zu Wanderungen ein.

Glendalough (ca. 11. Jahrhundert)
Dingle-Halbinsel

Auch Belfast ist relativ gut zu erreichen. Mit dem Zug über Dublin kommt man schnell nach Nordirland, von dort aus kann man geführte Bustouren an der Küste entlang zum beeindruckenden Giant's Causeway buchen. Da viele Orte Schauplätze für Games of Thrones waren, hat unser Tourguide sogar Kostüme zum Verkleiden mitgebracht – eine kleine Sünde für eine Geschichtsstudentin, sich kostümiert in einer mittelalterlichen Burg ablichten zu lassen, zugleich natürlich eine lustige Erfahrung.

Giant's Causeway

Der Abschied
„Diese Abschiede auf irischen Bahnhöfen, an Bushaltestellen mitten im Moor, wenn die Tränen sich mit Regentropfen mischen und der atlantische Wind weht…“, so schreibt Heinrich Böll im Irischen Tagebuch. Natürlich hinkt der Vergleich: Böll thematisiert die irische Emigration in den 1950er Jahren und ich stand auch nicht an einer Bushaltestelle im irischen Moor. Doch zugleich konnte ich mich mit seiner Schwermut und dem Abschiedsschmerz identifizieren. Ich hatte mich auf Galway gefreut, doch ich war davon ausgegangen in den vier Monaten lediglich oberflächliche Bekanntschaften zu schließen und nur kleine Einblicke in die irische Kultur zu bekommen. Ich hätte es besser wissen müssen: schon nach wenigen Wochen war Galway mein Zuhause geworden und ich habe mich unglaublich wohl gefühlt. Und wenngleich es kein Abschied für immer sein muss, so war mir doch klar, dass dieses erlebnisreiche und beinahe magische Erasmus-Semester nun vorbei war. Dass spontan meine Fähre gecancelt wurde und meine mühsam geplante Zugreise buchstäblich ins Wasser fiel, machte den Aufbruch auch nicht viel leichter.

Galway bei Nacht

Ich bin unglaublich dankbar für dieses Erasmus-Semester. Ich habe viel gelernt, meine englischsprachige Persönlichkeit weiterentwickelt und vor allem ein kulturell und landschaftlich unglaublich reiches Land kennen und lieben gelernt.

Mein Auslandsjahr an der LSE in London 2018/19

 

London, 18. Dezember 2019: Mit der feierlichen Graduation Ceremony an der London School of Economics ging für mich eine spannende und intensive Zeit in Großbritannien offiziell zu Ende. Die traditionell-britische Feier erstreckte sich über den gesamten Tag, angefangen vom Einkleiden mit Robe, Schärpe und Hut, über zahlreiche Fototermine, dem Wiedersehen mit Kommilitonen und Freunden vor Ort, der akademische Feier bis hin zum Empfang und anschließender Party im unieigenen Pub. Ein unvergessliches Erlebnis, das zugleich noch einmal die vielen Erinnerungen an diese zwei Semester (bzw. nach britischem Studienverlauf drei Trimester) in London in Erinnerung brachte.

Graduation Day in London im Dezember 2019

 

1. Bewerbungsphase und Integration des Auslandsstudiums in den Studienverlauf

Doch alles der Reihe nach: Dass ich mein deutsches Masterstudium für ein Jahr pausieren würde, um ein zusätzliches Masterstudium in Großbritannien einzuschieben, hatte ich mir zunächst nicht vorstellen können. Das war im Frühjahr 2017, als ich mich am Ende meines Bachelorstudiums mit Studienmöglichkeiten im Master auseinandersetzte. Ich wollte mein Studium in Geschichte damals nicht komplett aufgeben, sondern durch interdisziplinäre und vergleichende internationale Ansätze erweitern, zudem mein Masterstudium eventuell im Ausland absolvieren. Bei meinen Recherchen stieß ich relativ schnell auf die London School of Economics and Political Science (LSE), deren Studiengang “Theory and History of International Relations” (Theorie und Geschichte der Internationalen Beziehungen) mich sofort begeisterte. Die Interdisziplinarität des Studiums, das Veranstaltungen aus dem International Relations Department und International History Department kombiniert, wobei beide Institute auch die Wirtschaftswissenschaften und das Völkerrecht in ihre Methodik einbeziehen, machte die Entscheidung zusätzlich leicht. Darüber hinaus gehört die LSE zu den Topuniversitäten Großbritanniens und besitzt auch weltweit  einen hervorragenden Ruf. Der Bewerbungsprozess war daher höchst selektiv und verlangte ein hohes Maß an Eigeninitiative. So verfasste ich ein ausführliches Motivationsschreiben und korrespondierte mehrere Wochen mit den Prüfungs-und Studienbüros in Mainz, um die Leistungsübersichten in das englische System zu übertragen. Schließlich musste ich bereits während der Bewerbungsphase die Finanzierung des Studienvorhabens klären, was ich dank meiner Studienförderung durch die Studienstiftung problemlos erledigen konnte.

Nach einigen Wochen Wartezeit erhielt ich eine Zusage der LSE. Ich musste jedoch feststellen, dass der geplante Studienbeginn in London mit dem Ende meines Bachelorstudiums zusammenfiel. Ein geregelter Start in das neue Umfeld, verbunden mit Unterkunftssuche und Einführungsveranstaltungen, war somit unmöglich. Doch schnell ergab sich ein „Plan B“: Ich konnte die Zusage der Universität für ein Jahr zurückstellen und, nach Rücksprache mit dem Studien-und Auslandsbüro des Historischen Seminars, nahm ich zunächst ein Masterstudium in Mainz auf, um die Zeit bis London sinnvoll zu überbrücken, ehe das deutsche Studium dann für ein Jahr pausieren und nach meiner Rückkehr aus London wieder aufgenommen werden sollte. Somit erhielte ich dann einen Doppelabschluss, dank eines abgeschlossenen Studiums im Ausland. Meinem Auslandsjahr in Großbritannien im akademischen Jahr 2018/19 stand damit nichts mehr im Wege…

 

2. Die Suche nach der Unterkunft

Zunächst stand die Suche nach einer passenden Unterkunft an. Natürlich hätte ich mir die Wohnungssuche sehr vereinfachen können, indem ich mich auf eines der zahlreichen Studentenwohnheime fokussiert  hätte. Die Vorteile eines Wohnheimzimmers sind sicherlich der geringere Aufwand bei der Wohnungssuche, der relativ simple Bewerbungsprozess und evtl. die enge Verbindung zur Universität – und damit auch zu künftigen neuen Kontakten.  Allerdings bietet auch eine private Unterkunft einige Annehmlichkeiten, die mich relativ schnell davon überzeugten, mein Glück in London auf eigene Faust zu versuchen Das „deferral“, die Zurückstellung meiner Zusage, gab mir genügend Zeit, den Wohnungsmarkt zu sondieren.

Crouch End mit dem markanten Clocktower

Nach ausführlicher Vorabrecherche entwickelte sich die Gegend rund um Crouch End zu meinem Favorit. Der Stadtteil liegt in Zone 2, besitzt also eine relativ schnelle Anbindung in die City, verfügt jedoch auch über einen gewissen Vorortcharme. Durch die Entfernung zum Stadtzentrum ist das Einkaufsangebot für den täglichen Bedarf sehr attraktiv. In Crouch End existiert ein „Stadtteilkern“ mit zahlreichen kleineren Läden und Kneipen, ebenso in den benachbarten Vierteln Finsbury Park, Highgate Village und Archway. Die Mieten sind deutlich geringer als im Zentrum oder in Zone 1, wo man als Student nur extrem kleine Zimmer/Wohnungen erhält (und somit weniger Quadratmeter für sein Geld bekommt als im Studentenwohnheim). Meine Unterkunft in Crouch End bot am Ende deutlich mehr als ein Einzelzimmer mit Bad im Studentenwohnheim, das preislich nur minimal billiger gewesen wäre. Als Kostenpunkt muss man sowohl bei einem guten Einzelzimmer mit Bad im Studentenwohnheim als auch bei einer kleinen privaten Wohnung mindestens 250-300 Euro pro Woche (warm, und, ja richtig, pro Woche!) einplanen. Stipendien sind da eine große Unterstützung. Ich kann nur jedem empfehlen, sich selbst ein Bild von der Unterkunft vor Ort zu machen, da der Preis – ganz gleich, wo man unterkommt – doch sehr hoch ist, zudem gibt es große Qualitätsunterschiede. Die meisten Wohnungen in London wechseln über Makler den Besitzer. Der Makler bzw. der Vermieter verlangt bei erfolgreichem Vertrag einen in Großbritannien ansässigen „Guarantor“ (Bürgen). Wer also Kontakte in England hat, sollte diese nutzen, ansonsten wird der komplette Mietpreis bei der Anmietung fällig.

Wer mit WGs kein Problem hat, kann sich auch in diese Richtung umsehen und so nicht nur viel Papierkram, sondern evtl. viel Geld sparen. Allerdings sollte man zusehen, dass möglichst alle Mitglieder der WG selbst Studenten sind, weil man ansonsten ggf. „Council Tax“ mitzahlen muss, von der man als Vollzeitstudent befreit ist. Fehlende Möbelstücke findet man übrigens gut und günstig in einem Charity Shop, wo man zu sehr niedrigen Preisen (ab fünf Pfund) auf Secondhand-Schnäppchenjagd gehen kann.

 

3. Living in London – Auf dem Campus und abseits des Campus

Ausblick aus einem Hörsaal
Tower Bridge

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Nach diesem langen Kapitel, das ich aber angesichts des Studienortes London auch besonders ausführlich beschreiben wollte, rückt nun die eigentliche Studienerfahrung an der Universität in den Mittelpunkt. Die London School of Economics and Political Science (LSE) ist eine Topuni im Temple-Bezirk, also im Zentrum Londons, die Anzahl der ausländischen Studierenden ist sehr hoch. Vom ersten Moment an hat mich die Vielfalt und die Intensität der Universität beeindruckt. Die meisten Gebäude der LSE sind auf dem kleinen Campus untergebracht, der direkt an Covent Garden und den großen Park Lincoln's Inn Fields grenzt. Die Universität verfügt über zahlreiche Seminarräume mit teils unterschiedlich guter bis sehr guter Ausstattung; kein Vergleich zu vielen deutschen Unis mit oft in die Jahre gekommenen Hörsälen.

Die Seminaratmosphäre war überaus produktiv und ansteckend: Trotz relativ geringer Stundenzahl musste ich vergleichsweise viel Zeit in Vor-und Nachbereitungen der Vorlesungen und Seminare investieren, und es wäre vermessen zu sagen, dass das Studium der LSE kein Vollzeitstudium ist. Im Gegenteil: Das Studium ist sehr intensiv, eng getaktet, das Leistungsniveau ist sehr hoch, das Lernpensum enorm, ebenso aber auch der persönliche Gewinn. Die vielen unterschiedlichen Biographien, Studienhintergründe und Interessen der Mitstudenten sorgen für eine konstant gewinnbringende Arbeitsatmosphäre in den Universitätsveranstaltungen, die auch ein hohes Maß an Eigenverantwortung und Zeitmanagement voraussetzen. Am Ende hatte ich zwar „nur“ vier Seminareinheiten, die aber nicht mit deutschen Veranstaltungstypen zu vergleichen sind, wenn es um den Arbeitsaufwand geht. Durch die 25 Seminarwochen widmet man sich zudem deutlich langfristiger und dementsprechend intensiver bzw. vielseitiger einem Seminarthema als in Deutschland.

Ich belegte als erstes ein Seminar mit Vorlesung in „Foreign Policy Analysis“, das einen interdisziplinären Ansatz in der Analyse der Außenpolitik verfolgte und neben Theorien auch einige Fallbeispiele zur Anwendung brachte. Ein weiteres Seminar behandelte anhand verschiedener Konflikte des 20. Jahrhunderts „Crisis and Decision-Making in War and Peace“. Ähnlich wie in „Foreign Policy Analysis“ hätte die Vielseitigkeit der Seminarthemen, die alle innerhalb kürzester Zeit vorgestellt, gelernt und diskutiert wurden, gleich mehrere Veranstaltungsreihen füllen können. Besonders in diesem Seminar wurde die Internationalität der LSE eindrucksvoll deutlich, da quasi in jeder Stunde irgendeine Person auf Grund ihrer Vorkenntnisse einen besonderen Einblick in das Thema hatte, sei es durch persönlichen Bezug, Sprachkenntnisse oder Forschungsinteressen. Nach diesen thematisch sehr breiten Seminaren hatte ich ein Seminar mit regionalem Schwerpunkt gewählt, um die Theorien und Erkenntnisse der ersten beiden Seminare im regionalen Rahmen zu studieren und anwenden zu können. Das Seminar „The International History of the Balkans (1939-2006)“ bot dafür den perfekten Rahmen. Der Dozent, selbst Serbe, konnte teils persönliche Erfahrungen mit Akteuren aus Politik und Wissenschaft zu diesem Thema in die Diskussion einfließen lassen, was zu teilweise sehr kontroversen und produktiven Diskussionen führte. Meine letzte Seminarreihe bereitete mich auf die Anforderungen, Themenrecherche und das wissenschaftliche Arbeiten für die anstehende Masterarbeit vor. Hier hatte ich durch ähnliche Tutorien und Oberseminare an der Uni Mainz einen klaren Vorteil, da ich mich nicht allzu sehr in meiner Arbeitsweise umstellen musste. Als Thema meiner Masterarbeit habe ich  Luxemburg bei der Pariser Friedenskonferenz im Jahr 1919 gewählt. Dabei bin ich der Frage nachgegangen, inwieweit interalliierte Streitigkeiten, Organisationsfehler bei dieser multilateralen Konferenz in Paris und politischer Entscheidungswille in Luxemburg selbst dazu geführt haben, dass das kleine Land Luxemburg die überaus prekäre diplomatische Situation nach dem Ersten Weltkrieg politisch überlebt hat. Die Recherche unter der Aufsicht von Prof. David Stevenson gestaltete sich sehr intensiv, mit zahlreichen wie gewinnbringenden Archivbesuchen in den National Archives, dem House of Lords, der British Library und sogar im Nationalarchiv von Luxemburg

Abseits der Veranstaltungen sorgten an der LSE zahlreiche Annehmlichkeiten dafür, dass man tagsüber eigentlich kaum den Campus weiter als in einem 50 Meter-Radius verlassen musste: Es gab kleinere Cafés direkt an der Hauptstraße, Cafés auf dem Campus, Pubs (gut für ein Bier nach Feierabend oder einer anstrengenden Klausur!), einen Friseur, zwei Buchläden, Geldautomaten, zwei Dachterrassen mit tollen Ausblicken auf die Umgebung, kleinere Sitzecken in verschiedenen Bereichen, eine Kantine, ein Tennisplatz im benachbarten Park sowie ein unieigenes Fitnessstudio. Die LSE bietet vielfältige Möglichkeiten, um sich in seiner Freizeit zu vernetzen und in das Campusleben zu integrieren: Societies, eine Mischung aus Freizeitaktivitäten und Arbeitskreisen, sind sicherlich der Fixpunkt studentischer Aktivitäten. Es gibt Societies von allen auf dem Campus vertretenen Nationen. Darüber hinaus gibt es für Sportbegeisterte einige Societies mit Sportbezug.

Neben den Societies werden an der LSE auch zahlreiche interdisziplinäre Veranstaltungen angeboten, die oftmals bekannte Personen aus Politik und Gesellschaft anziehen. Ich habe z.B. einige Veranstaltungen am „European Institute“ besucht und so die Diskussionen rund um das Dauerthema „Brexit“ aus spannenden wie abwechslungsreichen Vorträgen von Leuten aus der Praxis verfolgen können. Darüber hinaus sind die Aktivitäten von “LSE Life in London“ sehr zu empfehlen. Einige engagierte Dozenten und Studierende mit Londonerfahrung organisieren Kurztrips zu  Londoner Sehenswürdigkeiten und Stadtteilen. So schauten wir u.a. hinter die Kulissen eines Londoner Theaters in Covent Garden, besichtigten den Tower, erhielten vor Ort Tipps für Museen wie für das British Museum oder die National Gallery, unternahmen einen Ausflug nach Kew und Greenwich oder fanden uns auf einem Bauernhof mitten im Londoner Zentrum wieder. Darüber hinaus waren die Ausflüge umsonst und ließen sich leicht in den Wochenplan einschieben.

 

Oxford

Insgesamt war mein Auslandsaufenthalt nach den turbulenten ersten Wochen, die aus Ankunft, Eingewöhnung und zahlreichen Einführungsveranstaltungen bestanden, sehr eindrucksvoll und eine wertvolle Erfahrung. Neben meinem Studium an der LSE habe ich viel Sightseeing in London gemacht, viele Abende in der Stadt auf allen möglichen Events verbracht, wobei ich dabei als Fußballfan insbesondere den Standortvorteil London bei Fußballspielen herausheben möchte. Angesichts der Vielzahl an Londoner Vereinen und Stadien konnte ich einige Spiele live verfolgen. In London ist gefühlt immer etwas los, und auch wenn ich Vieles gesehen habe, bleibt für künftige Londonbesuche noch einiges übrig. Die gute Anbindung meiner Unterkunft an Verkehrsknotenpunkte in der City war ein großer Vorteil. Ausflüge, u.a. nach Kent, an die Südküste, nach Oxford, auf die Isle of Wight sowie nach Windsor ließen sich mit dem hohen Arbeitspensum kombinieren. Ich bin dankbar, in dieser Stadt studiert zu haben! Das Auslandsjahr in London sowie die Vorbereitungszeit sind wie im Zeitraffer vergangen, mit überwältigenden Eindrücken und einem großen Lernprozess sowohl was den persönlichen als auch den akademischen Bereich betrifft. Ich bedanke mich an dieser Stelle bei allen, die diese Erfahrungen ermöglicht haben! Vonseiten der Universität Mainz war die Beratung von Frau Dr. Nordblom vom Auslandsbüro des Historischen Seminars eine große Unterstützung. Da mein Auslandsaufenthalt mit einem fachbezogenen, jedoch selbstorganisierten Studium an der London School of Economics nicht ganz alltäglich war, bin ich dankbar, bei den vielen Rückfragen im Vorfeld eine kompetente Beratung erfahren zu haben. Außerdem bedanke ich mich bei Herrn Dr. Schlarb aus der Amerikanistik und Herrn Prof. Matheus aus dem Historischen Seminar für die Empfehlungsschreiben! Gleiches gilt für das Studienbüro Geschichte mit Herrn Dr. Frings und Frau Shahla, die meinen Studienverlaufsplan abgesegnet und die Dokumente (u.a. Transcripts) für den Bewerbungsprozess in London bereitgestellt haben.

                                                                                                                         Christian Müller

Ventnor, Isle of Wight
Broadstairs, Kent