Eine Grand Tour durch Europa
Man sagt, dass Reisen bildet. Im Falle eines Auslandssemesters schlägt man also zwei Fliegen mit einer Klappe: Man bereist nicht nur ein fremdes Land, sondern studiert auch noch an einer Universität. Rein rechnerisch betrachtet erweitert sich der persönliche Horizont also doppelt. Alleine der mehrmonatige Aufenthalt in einem fremden Land, dessen Sprache und Kultur einem anfangs vielleicht nur oberflächlich bekannt vorkommen, zwingt einen dazu, sich neu anzupassen. Möglicherweise beschäftigt man sich nach einer kurzen Zeit der Eingewöhnung mit den Eigenheiten der Einheimischen und eignet sich neue Arten und Weisen des Lebens an. Möglicherweise lernt man sogar die anfangs so komplizierte Sprache kennen und kann am Ende seines Auslandsaufenthaltes nicht nur ein paar Brocken, sondern ganze Sätze sprechen. Eignet man sich möglicherweise sogar den Humor der Menschen an, so ist man im Land angekommen. In jedem Fall erlernt man mehr Eigenständigkeit. Man kehrt reifer nach Hause zurück, verspürt eigentümliches Heimweh und schließlich fühlt man sich, blickt man auf alles zurück, auch ein wenig als europäischer Kosmopolit. Letzteres ist natürlich anmaßend zu behaupten, aber eine Prise Wahrheit steckt sicherlich in diesem Ausdruck.
Es ist schon etwas länger her, dass ich mich dazu entschied im Wintersemester 2017/18 meine eigene Erasmus-Erfahrung zu machen. Ich erinnere mich jedoch gut daran, dass ich vor der schweren Wahl stand, ein studienbezogenes Praktikum zu ergattern oder den Sprung zu wagen und für mehrere Monate ins Ausland zu gehen. Natürlich hat man anfangs Angst vor dem Ungewissen. Man kappt für mehrere Monate alle heimischen Verbindungen, findet sich in einer ungewohnten Umgebung wieder und ist im schlimmsten Fall auch noch ganz alleine. Überlebt man das überhaupt?
Der große Schritt nach Osten
Ich entschied mich also dafür, den Kopf nicht in den Sand zu stecken und dem Nest zu entfliegen. Meine Wahl war jedoch - wie so vieles in meinem allzu langen Studium - spontan und von selbstverschuldeten, nicht allzu günstigen Umständen begleitet. Ich fand mich also in der Restplatzvergabe wieder. Mein anfänglicher Wunsch, meine Zeit an einer westeuropäischen, hogwarts-gleichen und traditionserfüllten Universität zu verbringen, verpuffte auch ziemlich schnell nach einem kurzen Blick in die Liste der noch möglichen Aufenthaltsorte. Ungarn und Polen. Meines Erachtens, so dachte ich damals, weder westeuropäisch noch traditionserfüllt, doch die einzige Chance, ein Auslandssemester zu machen. Schlussendlich entschied ich mich für die Jagiellonen-Universität im polnischen Krakau, wohl auch weil ich polnische Wurzeln habe und das Land und die Sprache einigermaßen kenne. Ein ganz großer Schritt mit Stützrädern sozusagen.
Im Spätsommer 2017 startete dann die Organisationsphase. Auch wenn es nur ein paar Monate waren, so erforderte der Auslandsaufenthalt eine große Bandbreite an Planung. Glücklicherweise bekam man von der Erasmus-Abteilung seiner Universität eine beträchtliche Starthilfe: Checklisten, Tipps und Reisehinweise, Step-by-Step-Anleitungen und Workshops. Kam einem die Flut an Informationen dennoch zu viel vor, erhielt man Rückhalt von der Erasmus-Koordinatorin, die, trotz der Tatsache, dass sie alle Fäden in der Hand haltend im Stress zu versinken drohte, dennoch Zeit für jeden Studenten investierte und alleine vom Fakt begeistert zu sein schien, dass man sich für Erasmus entschieden hatte.
Polnische Gastfreundschaft
Mein eigentliches Erasmus-Semester startete Anfang Oktober. Schon Ende September landete ich jedoch nach einem Flug mit einer Billig-Airline auf dem Krakauer Flughafen. Anders als die typische Studentenschaft entschied ich mich nicht dazu, eine WG im Stadtzentrum oder dem hippen Kazimierz zu beziehen, sondern erhielt über Umwege Kontakt zu Freunden meiner polnischen Cousine, die mir eine Stube außerhalb des Stadtzentrums vermieteten. Während das etwas ältere polnische Ehepaar im oberen Stockwerk wohnte, teilte ich mir das untere Geschoss mit einer Polin mittleren Alters, die dort ebenfalls wohnte. Niemand sprach Englisch und über die nächsten Monate hinweg sah ich es als persönliche Herausforderung an, meine angestaubten Kenntnisse im Polnischen zu vertiefen. Schnell wuchs ich in die kleine Gemeinschaft ein. Ich erhielt Tipps, wie ich mich in der Stadt zurechtfinde, wo es gute Lokale und Einkaufsmöglichkeiten gibt und welche Sehenswürdigkeiten wirklich sehenswert sind. Regelmäßig wurden wir von den Vermietern auch zum Essen eingeladen, ich lernte die Familie meiner Mitbewohnerin kennen und als das Semester vorbei war, fühlte ich mich selbst als eines der Familienmitglieder.
Um ehrlich zu sein, war ich länger hin und hergezogen, dort zu bleiben und auf die Vorteile einer innerstädtischen WG zu verzichten oder zusammen mit Erasmus-Menschen oder gar polnischen Studenten die Innenstadt zu erleben. Ich entschied mich jedoch für ersteres und nahm die Busfahrten und die außerstädtische Lage in Kauf. Mit der Zeit gewöhnte ich mich dran, lernte meinen Kiez kennen und witzelte in meiner Gruppe darüber, dass ich unweit eines Gewerbegebietes wohnte, dessen Hauptattraktion ein Hallenbad und eine Shoppingmall waren.
Universitärer Alltag im Zeichen von Erasmus
Mein eigentliches Studienjahr war entspannt. Ich belegte fünf vormittägliche Kurse und war viermal in der Woche an der Universität. Ich studierte damals schon im Masterstudiengang Geschichte. Die dortige Historische Fakultät war im Vergleich zu anderen Fakultäten ziemlich klein, das Mobiliar und die Einrichtung des Gebäudes etwas veraltet, doch einen gewissen Charme ausstrahlend. Meine Kurse waren durchweg englisch und auf das Erasmus-Programm zugeschnitten. Ich belegte unter anderem eine Vorlesung über die englische Reformation, ein Seminar über die europäische Erinnerung an den Holocaust und eine Übung über die polnische Gesellschaft, dargestellt über Dokumentationen und ethnographische Studien. Im Vergleich zu vielen Seminaren und Vorlesungen, die ich an meiner Heimatuniversität belegte, erinnere ich mich noch lebhaft an alle in Polen belegten Kurse. Das hat sicherlich auch etwas mit dem Auslandserlebnis an sich zu tun, doch bin ich auch der festen Überzeugung, dass es die einzigartigen und sympathischen Charaktere der Professoren und Dozenten waren, die mich die Veranstaltungen an der Krakauer Universität nicht vergessen ließen. Auch der Aufwand, mit dem man für Prüfungen lernte, die aus Klausuren, Essays oder kleinen Hausarbeiten und Präsentationen bestanden, war im Vergleich zu den heimatlichen Verhältnissen kleiner. Dieser Umstand bringt mich direkt zum nächsten Punkt.
Die Wahrheit ist, dass man während eines Auslandsaufenthaltes sehr viel Freizeit hat. Mehr Freizeit als während des regulären Semesters zu Hause,das meist im Stress unterzugehen scheint. Tatsächlich hatten wir Erasmus-Studenten so viel Zeit, dass wir die Wochenenden häufig für Städtetrips nutzten. Ich selbst besuchte Wrocław (damals hieß das noch Breslau), Gdańsk (Danzig), das verschneite Zakopane und besuchte über Weihnachten meine Familie in Warschau. Über Silvester nahm ich den zwischen Warschau und Berlin verkehrenden Expresszug und besuchte ein paar Freunde in der deutschen Hauptstadt. Eine meiner letzten Stationen war das zu der Zeit wunderbar verschneite Prag. Die abendliche Stille in der uns so unbekannten Altstadt bleibt mir bis heute in Erinnerung.
Auch während des laufenden Semesters reiste man viel und unternahm Exkursionen. Wir besuchten das ehemalige Konzentrationslager Auschwitz, unternahmen einen nachmittäglichen Ausflug in die in den 1950ern unter der kommunistischen Herrschaft entstandenen Planstadt Nowa Huta oder nahmen die Gelegenheit war, um die in der Nähe befindliche Salzmine Wieliczka zu besuchen, die im Mittelalter und der Neuzeit einen Grundstein für den Reichtum der polnischen Könige darstellte und Krakau so zu einem zentralen Ort des Handels machte.
Tauwetter
Man sagt das Reisen bildet. Meiner Auffassung nach trifft das im Falle von Erasmus zu. Jetzt, nachdem fast drei Jahre vergangen sind, seitdem ich nach meinem Semester in Polen wieder deutschen Boden unter den Füßen spürte, habe ich das Gefühl, dass mich diese paar Monate für mein Leben mehr oder minder geprägt haben. Sicherlich ist es übertrieben zu behaupten, dass ich der anfangs erwähnte europäische Kosmopolit geworden bin, der die europäische Flagge über die Schultern wirft. Ich habe auch nie so richtig an den Erasmus-Meetings teilgenommen, den internationalen Kochkursen, Dating-Cafés und Karaoke-Abenden. Und dennoch blieb in mir persönlich etwas von diesem Aufenthalt haften. Und das wird es auch noch in zehn Jahren.
Erasmus verschafft einem die Möglichkeiten,
über den Tellerrand zu schauen und zu erspähen, was es sonst noch für Möglichkeiten gibt. Im Studium, wie auch im Leben. Am Ende stellt man sich vielleicht sogar die Frage, ob man nicht wiederkommt. Oder gar in diesem Land, das man kennenlernen durfte, zukünftig lebt und arbeitet. Ich für meinen Teil habe Krakau seither im Rahmen einer kleinen Reunion mit meinen dort geschlossenen Bekanntschaften zwei oder dreimal besucht. Ich lernte die Stadt so gut kennen, dass sie mir fast schon langweilig geworden ist. Und ich sage das mit Stolz, denn ich fühle mich jedes Mal, wenn ich dorthin zurückkehre, fast schon wie ein Einheimischer. Ich glaube, es sind genau diese Erfahrungen, die man außerhalb der Universität erhält, die die Quintessenz des Erasmus-Austauschprogramms darstellen.
Reisen bildet eben.
Verfasst von Alexander Michel im Mai 2020