Auslands-FSJ während des Studiums?

Seit mittlerweile einem halben Jahr mache ich einen Freiwilligendienst in der Gedenkstätte Majdanek im Südosten von Polen. Wie bin ich dahin gekommen?

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So sehe ich auf meinem Mitarbeiterausweis aus.

Servus, i bims

Ich heiße Stefan Strietzel, bin 25 Jahre alt und studiere an der JGU Geschichte und Buchwissenschaft im Bachelor. Nachdem ich in der Schulzeit neben etwas Englisch nur Latein und Alt-Griechisch lernen „durfte", habe ich an der Uni das Sprachenlernen nachholen wollen. Irgendeine slawische Sprache sollte es werden, weil alle anderen Französisch und Spanisch machen. Ein netter Dozent der osteuropäischen Geschichte (der es mittlerweile in die Hauptstadt geschafft haben soll) empfahl mir den Intensivkurs am Mainzer Polonicum. Damals hatte ich keinen Bezug zu Polen, war einmal mit der Schule in Krakau und der Gedenkstätte Auschwitz gewesen. Einige Jahre später sitze ich zum x-ten Mal im Berlin-Warschau-Express, habe zwei Semester Erasmus-Studium in Toruń hinter mir und Dutzende Kurzaufenthalte in Polen.

Irgendwas Praktisches zwischen Bachelor und Master

Als das Ende des Bachelors absehbar wurde, war klar, dass irgendwann der Master kommt. Aber etwas Praktisches wollte ich nach vier Jahren Studium machen, vielleicht sogar was Sinnvolles, am besten in Polen. Aber wer nimmt einen BA-Historiker mit mittelmäßigen Polnischkenntnissen? Anfang November 2018 sitze ich auf Toilette und denke über diese Frage nach. Vielleicht kann man eine Art FSJ auch im Ausland machen...vielleicht muss ich dafür nicht gerade mein Abi gemacht haben und 18 sein...? Ich tippe "FSJ Polen" bei Google ein und stoße auf Aktion Sühnezeichen Friedensdienste (ASF).

Aktion Sühnezeichen Friedensdienste e.V. organisiert einjährige Freiwilligendienste und kurzzeitige Sommerlager in Ländern, die besonders unter dem Nationalsozialismus gelitten haben. Die über 100 Projektstellen verteilen sich auf West- und Osteuropa, die USA und Israel. Die Freiwilligen arbeiten in unterschiedlichen Projekten – von der historisch-politischen Bildungsarbeit in Gedenkstätten und Jugendbegegnungsstätten bis zur Sozialarbeit in Einrichtungen für Senioren, Obdachlose und Menschen mit Behinderung. Hier gibt es mehr Infos.

Beim Bewerbungsseminar

Zwei Monate später sitze ich im Stuhlkreis mit einer Handvoll 18 Jähriger, die gerade Abi machen. Ich bin auf dem Info- und Bewerbungsseminar von ASF und alles andere als der „typische ASFler". Schon auf der Zugfahrt zum Auswahlseminar in der Nähe von Berlin wurde ich von einem anderen Bewerber gesiezt. Das ist die Generation, die nach 2000 geboren und trotzdem schon volljährig ist. Glücklicherweise sind die meisten mit 18 schon weiter als ich dachte. Und glücklicherweise habe ich mir etwas Pubertät bewahrt und kann auch mit jüngeren Leuten Spaß haben.

Wir werden in Kleingruppen eingeteilt, zwei Betreuer_innen leiten Diskussionen ein, geben Reflexionsaufgaben, beobachten uns dabei. Wir bekommen Zettel und Stifte ausgeteilt, sollen verschiedene Dinge zeichnen, wer uns in unserem Leben stark beeinflusst hat, wie wir auf ASF gekommen sind, irgendeine dritte Frage. Ich denke mir nicht viel beim Zeichnen, ist wahrscheinlich nur für uns, um uns die Fragen, die gleich mündlich besprochen werden, nochmal zu vergegenwärtigen. Ich male mit Edding ein Strichmännchen, das einen alten Freund darstellen soll, eine Toilette und ein Handy mit "FSJ Polen" im Google-Suchfenster, und eine Ente.

Natürlich sollen wir alle unsere Zeichnungen vorstellen und damit die Fragen beantworten. Von den anderen kommen teilweise sehr persönliche und reflektierte Antworten, ein Mädchen spricht über die schwierige Beziehung zu den Großeltern mit NS-Vergangenheit. Ich halte einen Zettel mit Strichmännchen, Toilette und Ente in den Händen und muss schlucken. Als ich dran bin, quetsche ich jedes Bisschen Bedeutsamkeit aus den Bildern und Anekdoten heraus. Bin ich jetzt raus? Nach mir kommt ein Junge, der meint, Helmut Schmidt habe ihn stark beeinflusst. Er sagt das mit einer Altersgewissheit, die in Kombination mit seinen 18 Jahren etwas absurd wirkt. Er ist bei den Jusos. Vielleicht habe ich doch nicht so schlecht abgeschnitten.

Und tatsächlich, ich erhalte einige Monate später eine Zusage für die Gedenkstätte des ehemaligen Konzentrationslagers Lublin-Majdanek in Polen. Und Überraschung, drei Hausarbeiten und eine Bachelorarbeit in meinem eigentlich letzten Semester sind zu viel. Die Bachelorarbeit verschiebe ich auf meinen Aufenthalt in Lublin. Zack, Auslands-FSJ während des Studiums.

Moral der Geschichte

Vielleicht wollt Ihr auch eine Art Gap Year zwischen Bachelor und Master einlegen? Es gibt verschiedene Organisationen, die Freiwilligendienste in Deutschland und abroad anbieten. Mit Studium und vielleicht vorhandenen Sprachkenntnissen seid Ihr im Vergleich zu vielen Abiturient_innen fast schon überqualifiziert. Also losgegoogelt! Und wenn Ihr gerade auf Toilette sitzt, erwähnt das nicht unbedingt bei der Bewerbung.

 

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