Als Fußgänger unterwegs in Wien

Montagvormittag in der Nähe einer größeren Straße. Berufsverkehr. Das Ziel: Straßenüberquerung. Zur Verfügung stehende Hilfsmittel: „Zebrastreifen“ – oder korrekt: „Fußgängerüberweg“. Der Begriff ist ein Witz. Das jedenfalls lehrt uns die Erfahrung. Denn es gibt wohl keinen sichereren Weg, eine Straße nicht zu überqueren, als an einem „Fußgängerüberweg“ darauf zu warten, dass sich hinreichend viele der unzähligen „Kraftfahrzeuglenker“ gleichzeitig dazu entschließen einem die Gnade des sicheren Übertritts zu gewähren. „Fußgängerüberweg“ – ein Begriff voll konzentrierten Autofahrer-Zynismus. Jedenfalls in Deutschland.

Umso überraschter war ich, als ich in Wien das erste Mal an einen „Fußgängerüberweg“ herantrat. Fort war sogleich aller Zynismus, der diesem Begriff für mich inne wohnte. Denn links wie rechts von mir bremsten die Karossen schon meterweit vor dem Überweg sachte (!!!) ab. Ein sicheres Passieren war so ohne Probleme möglich. Und inzwischen bin ich zu der Ansicht gelangt, dass Fußgängern hierzulande ein privilegierter, ein geschützter Status zukommt. Wahrscheinlich würden sogar die U-Bahnen vor Fußgängern halt machen. Empirische Pionierleistungen auf diesem Forschungsgebiet überlasse ich aber gerne anderen.

Ist Wien also ein Paradies für Fußgänger?  – Fast! Denn ein Feind stellt sich dem Fußgänger weiterhin, tagein, tagaus tapfer entgegen. Und das gleich massenhaft. Die Rede ist natürlich von anderen Fußgängern. Es scheint fast so, als sei ihnen die zuvorkommende Behandlung durch die anderen Verkehrsteilnehmer zu Kopf gestiegen. Wie kleine Louis oder besser: Leopolds schreiten die Wiener per pedes durch die Straßen ihrer Stadt. Rücksicht und Vorsicht wird vermieden wo es geht. Als nicht-Einheimischer hat man alle Hände – bzw. Füße – voll zu tun, all den beweglichen Hindernissen ausweichen. Man will ja schließlich niemanden anrempeln. Den Wiener stört das hingegen nur wenig. Wenn es tatsächlich einmal zur Kollision kommt, lässt er eben ein lakonisches „'Tschuldigung“ verlauten. Damit ist die Sache für ihn gegessen. Für den auswärtigen Gegenüber – in der Landessprache ein „G'scherter“ – jedoch nicht. Denn ein echter Wiener schafft es eine Entschuldigung genau so zu intonieren, dass beim um Entschuldigung „gebetenen“ Schuldgefühle erwachsen.

Zugegeben: Ich übertreibe ein wenig. Ich würde auch in Wien nicht blind über einen Zebrastreifen gehen und ich muss auch nicht jedem Fußgänger ausweichen (die Touristen ;)). Aber so ganz frei erfunden ist meine kleine schwarz-weiß-Malerei auch nicht. Denn es lassen sich – jedenfalls in meiner Wahrnehmung – sehr wohl „feine Unterschiede“ festmachen.

 

Florian Stabel

Veröffentlicht am | Veröffentlicht in Wien