Wien und die Geschichte

Was erwartet einen angehenden Historiker, der sich aufmacht, sein Studium für eine Weile in Wien fortzusetzen, so an Geschichte in der österreichischen Bundeshauptstadt?

Zunächst einmal ist da natürlich die universitäre Sphäre. An der Universität Wien sind gleich mehrere historische Institute untergebracht. Neben dem umfassendsten und größten, dem „Institut für Geschichte“, sind das etwa das „Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte“, das „Institut für Osteuropäische Geschichte“ und das allerdings nur teilweise zur Uni gehörige „Institut für Österreichische Geschichtsforschung“. Diese institutionelle Bandbreite schlägt sich selbstverständlich auch auf die Breite des Studien- und Lehrangebotes nieder. So bietet die Uni Wien neben einheitlichen B.A.- und Lehramtsstudiengang insgesamt neun Masterstudiengänge, die z.T. auch interdisziplinär angelegt sind. Neben dem wahlweise auch epochal spezialisierten „Master Geschichte“ sind das etwa die Master „Frauen- und Geschlechtergeschichte“, „Wirtschafts- und Sozialgeschichte“, „Historisch-Kulturwissenschaftliche Europaforschung“ und „Geschichtsforschung, Historische Hilfswissenschaften, Archivwissenschaft“.

Für Austauschstudierende sind diese verschiedenen Studiengänge an sich natürlich nur von geringer Bedeutung. Man ist ja nur für eine sehr begrenzte Zeit da. Der Vorteil, den man aber hat, ist derjenige, dass man quer zu den Trennlinien dieser ganzen Studiengänge die zugehörigen Lehrveranstaltungen nach Belieben belegen und so den eigenen Interessen auch einmal abseits dessen, was üblicherweise an der Heimatuni angeboten wird, nachgehen kann oder auch vielleicht ganz neue Interessenfelder für sich entdeckt.

Hat man dann erst einmal eine Wahl getroffen, ist man auch ganz schnell drin im Studi-Alltag. Der gestaltet sich nun nicht grundlegend anders als in Mainz auch. Mal abgesehen davon, dass man selbst in der Uni (trotz z.T. großen Bemühens) kaum Hochdeutsch zu hören bekommt (dafür muss man schon ins Theater), möchte ich hier drei Aspekte erwähnen: Erstens wird in den Lehrveranstaltungen selbst ein recht hohes Lesepensum verlangt. Zudem sind oftmals auch noch kleinere schriftliche Aufgaben und Zusammenfassungen anzufertigen. Zweitens sind die Wiener Studis ziemlich diskussionsfreudig, selbst in größeren Lehrveranstaltungen. Beides sind natürlich Beobachtungen, die sich auf die paar von mir besuchten, (gemessen am Gesamtangebot) wenigen LVs beziehen und somit nur schwer Anspruch auf allgemeine Gültigkeit erheben können. Was ich aber so im Austausch mit anderen Austauschstudierenden erfahren habe, zielte alles in eine ähnliche Richtung.

Drittens und letztens wäre dann noch die technische Ausstattung ganz allgemein zu erwähnen. Und an dieser Stelle kriegt der Mainzer doch ein bisschen Heimweh, denn die Bedingungen in Mainz sind doch ein bisschen studierfreundlicher. Nur so viel: Der Selbstverbuchungsautomat (ich habe bislang nur einen einzigen entdeckt) in der Lehrbuchsammlung ist nicht von allzu geringem historischen Wert. Und so sind es lauter kleine Details, die den Studienalltag in der Summe doch etwas anders aussehen lassen, als in der Heimat.

Hinzu treten natürlich auch ganz andere Rahmenbedingungen, die die Stadt bietet. Wien ist nun einmal nicht Mainz. Und damit wäre ich auch bei meinem zweiten Punkt: Die Stadt und die Geschichte (außerhalb der Uni).

Zu aller erst denkt man hier an natürlich an die Habsburger, die hier schier ewige Zeiten residierten. Dieser große historische Zeitraum schrumpft jedoch im Alltagsbewusstsein der Wiener ganz schnell, ganz weit zusammen. Übrig bleiben dann noch der allgegenwärtige Franz Joseph (ja, Sissi natürlich auch ein bisschen...) und die von den Leuten längst zur „österreichischen Kaiserin“ verklärte Maria Theresia. Im Stadtbild präsent hingegen ist v.a. der Erstgenannte. Unter seiner Regie entstand quasi auf den Fundamenten der alten „Festung Wien“ (heutiger erster Bezirk) die große Wiener Prachtstraße, der „Ring“, an der die meisten der berühmtesten Sehenswürdigkeiten liegen: Staatsoper, Neue Hofburg und Heldenplatz, Parlament, Natur- und Kunsthistorisches Museum, Burgtheater, Rathaus; jedes einzelne dieser Gebäude im Stile der Zeit errichtet und das heißt: in historistischem Baustil. Programmatisch versuchte man hier jeweils die Architektur jener Epoche nachzuahmen, in der das jeweilige Gebäude in funktioneller Hinsicht seine Glanzzeit gehabt hätte. Das (völlig unpassende) „griechische“ Parlament ist hierbei wohl das einleuchtendste Beispiel.

Auch das Hauptgebäude der Universität (dort wo auch die meisten historischen Institute untergebracht sind) gehört zu diesen Prachtbauten am Ring. Die architektonische Ausstattung ist entsprechend, so dass insbesondere die ersten Uni-Besuche zu großen Highlights werden. Prachtvolle Stiegen, Großer Festsaal mit Deckengemälden von Gustav Klimt, Großer Lesesaal, Arkadenhof. Alles schon ein bisschen anders als im heimischen Philosophicum.

An dieser stelle drängt sich mir die Frage auf, was denn diesen neoabsolutistischen Prunk so reizvoll macht. Warum pilgern all die Touristen gerade dorthin? Was nimmt sie, was nimmt mich, was nimmt uns so für dieses Überdimensionierte, das Imperiale ein? Ist es der bloße Respekt für die architektonischen Leistungen? Die Bewunderung von Größe? Der Fakt des Außergewöhnlichen? Sind es ästhetische Gründe? Oder vielleicht doch einfach nur die Tatsache, dass dies eben die Dinge „sind“, die man „mal gesehen haben muss“...

Viel unscheinbarer und weit davon entfernt Touristenmagnet zu sein, hat sich eine andere historische Epoche ins Stadtbild eingebrannt: das „Rote Wien“, womit man im engeren Sinne die Phase sozialdemokratischer Alleinregierung in der Stadt zwischen 1918 und 1934 bezeichnet. In dieser Phase entstanden zahlreiche soziale Wohnungsbauten, wie etwa der Karl-Marx-Hof oder der Rabenhof, die bis heute das Stadtbild v.a. in den westlichen Bezirken mit prägen. Und auch nach 1945 erlebte der soziale Wohnungsbau in Wien unter sozialdemokratischer Federführung wieder einen Aufschwung. Wer offenen Auges durch die Stadt geht, erkennt die städtischen Bauten an den nicht gerade versteckt angebrachten Hinweisen.

Damit sind wir aber auch schon bei der aus deutscher Sicht spannendsten oder, je nach Perspektive auch langweiligsten, Periode österreichischer Geschichte. Ich möchte hier gar nichts groß inhaltlich dazu schreiben. Ich erwähne diese Periode v.a. deshalb, weil sich in Bezug auf diese für mich sehr deutlich feststellen ließ und lässt, dass ich doch – trotz all der Gemeinsamkeiten – in einem anderen Land bin. Für die gleiche historische Periode sind hier einfach ganz andere Daten wichtig, andere Erzählungen, andere Orte relevant. Das ist zwar alles in der Theorie völlig klar, aber als Erfahrung in der Praxis doch noch einmal viel eindrücklicher. Und nicht zuletzt um diese Eindrücke geht es ja gerade bei einem Auslandssemester. Die Theorie findet sich auch daheim, im schmucklos-praktischen Philosophicum, in der Seminarbibliothek.

Grüße dahin 😉
Florian Stabel

Veröffentlicht am | Veröffentlicht in Wien