Liepaja

Wie aus Winston Vinstons wurde – Im Land der falschen Namen

„Why did you choose Latvia?“ Diese Frage musste ich zu Beginn meines Auslandssemesters in Liepaja öfter beantworten als die nach meinem Vornamen. In der Tat können viele Letten scheinbar nicht begreifen, wieso sich Menschen aus anderen Ländern freiwillig der Kälte des winterlichen Baltikums aussetzen. Dabei sind sie doch sonst ein so stolzes Volk, die Letten. An gefühlten hundert Feiertagen im Jahr hat jedes Haus per Gesetz Flagge zu zeigen, während dies für Schulen, Museen und andere staatliche Einrichtungen sowieso das ganze Jahr über obligatorisch ist. Volkstanz ist in Lettland quasi Nationalsport und im Chor Volkslieder zu singen ein weitverbreitetes Hobby. Auch ihre Sprache ist den Letten sehr wichtig: Erst im letzten Jahr hat sich die große Mehrheit der Bevölkerung in einem Referendum gegen die Einführung des Russischen als zweite Amtssprache ausgesprochen (die russische Minderheit stellt ca. 29% der Gesamtbevölkerung dar). Somit ist und bleibt Lettisch einzige offizielle Sprache und auch als Austauschstudierender merkt man schnell, dass es sich lohnt, Vokabeln zu lernen, denn des Englischen sind außerhalb Rigas eher wenige mächtig.

IMG_5357

IMG_5361

Angesichts der dramatischen Geschichte Lettlands scheint ein solcher Patriotismus kaum verwunderlich, war das Land doch jahrhundertelang Spielball verschiedener Okkupationsmächte und kämpfte lange um seine nationale Unabhängigkeit. Eine Sache werde ich den Letten, nationales Bewusstsein hin oder her, jedoch wohl nie verzeihen: Die Latvinisierung von Personenname. So heißt Winston Churchill hier offiziell Vinstons Čērčils und Gerhard Schröder wird tatsächlich als Gerhards Šrēders tituliert. Auch auf all meinen offiziellen Dokumenten der lettischen Universität steht mein Name in lettischer Form und niemand nennt mich hier bei meinem deutschen Namen. Doch andere Länder, andere Sitten und so bleibt wohl nur der Weg der namentlichen Anpassung.

Dies ist jedoch nicht der einzige Punkt, indem sich die Letten sehr von anderen Nationen unterscheiden. Auch Studieren ist hier anders, sind doch die Kurse meist kleiner als in Deutschland und das Verhältnis zwischen Dozierenden und Studierenden dadurch oftmals familiär geprägt. Allgemein werden hier eher praxisbezogene Inhalte vermittelt und nach dem Absolvieren eines vierjährigen professionellen Bachelorstudiengangs besitzt der Studierende nicht nur einen akademischen Grad, sondern auch eine berufliche Qualifikation, die in Deutschland etwa mit einer abgeschlossenen Ausbildung gleichzusetzen wäre.

IMG_4609

Insgesamt ist Lettland nicht nur ein sehr stolzes, sondern auch ein sehr leeres Land: nur etwas mehr als zwei Millonen Menschen leben hier, das sind weniger als in der deutschen Hauptstadt. Vor allem im Winter können die weiten Felder und Wälder den Eindruck vermitteln, hier existiere weit und breit kein Leben. Erst wenn im März oder April der letze Schnee gefallen ist und die Temperatur langsam über den Nullpunkt steigt, lassen sich wieder Menschen blicken, die sich in Mehrzweckhallen und Schulen zusammenfinden, um gemeinsam Volkslieder zu singen.

IMG_4976

Tatsächlich stellt das rückläufige Bevölkerungswachstum, stark bedingt durch die Abwanderung vieler junger Letten ins Ausland, das Land vor eine große Herausforderung. Dabei bemüht sich Lettland sehr, seinen Teil zur europäischen Identität beizutragen. Die Einführung des Euro 2014 birgt für viele die Hoffnung, dass sich die wirtschaftliche Attraktivität des Landes steigern möge, und auch Rigas Auszeichnung als Kulturhauptstadt im selben Jahr soll helfen, Lettland stärker in den Fokus der Weltöffentlichkeit zu rücken. Dabei ist wichtig zu anzumerken, dass es hierbei nicht um das Baltikum im Ganzen geht, sondern um Lettland an sich, welches jedoch von vielen nur im Kontext des Ersteren wahrgenommen wird. Wie oft wurde ich im Vorfeld meines Auslandsaufenthaltes gefragt, wann es denn endlich los nach Litauen ginge und ob Vilnius oder Tallinn lettische Hauptstadt sei.

Doch angesichts seiner Widerstandsfähigkeit und Stärke, die Lettland in der Vergangenheit wiederholt unter Beweis stellen musste, bleibt wohl zu erwarten, dass das Land auch kommende Hürden erfolgreich nehmen wird. Irgendwann werden die Menschen wissen, wo Lettland liegt und welche Sprache dort gesprochen wird. Wenn mich heute jemand fragen würde, wieso ich mich für Lettland entschieden habe, würde ich sagen: ”For Latvia’s sake. That’s why.”

Ruth Karner

Veröffentlicht am | Veröffentlicht in Liepaja