Dies ist ein Volk ohne Geschichte und ohne Literatur…

...mit diesen Worten beschrieb Lord Durham, britischer Gouverneur in Nordamerika, die französischsprachigen Kanadier, als diese sich 1837 gegen die britische Kolonialherrschaft erhoben.
Dass Lord Durham damit nicht richtig lag, darf ich hautnah miterleben, denn seit zwei Monaten studiere ich Geschichte und Französisch in Kanada, Quebec, Sherbrooke- und fühle mich bereits pudelwohl.
Mein neues Zuhause, etwa 15 Minuten zu Fuß vom Campus der Uni Sherbrooke entfernt, teile ich mir mit einem Kater und zwei Frankokanadiern. Das heißt, ich bekomme meine tägliche Dosis Québécois auf jeden Fall. Bevor ich hier ankam, konnte ich es mir nur schwer vorstellen, dass ich Probleme damit haben könnte, Menschen, die Französisch sprechen, zu verstehen. Allerdings sollte ich bereits am Flughafen in Montreal eines Besseren belehrt werden, denn die Wegbeschreibung des netten Busfahrers habe ich 0,0 verstanden.
Auch in den Kursen ist es nicht immer leicht meinen Mitstudis zu folgen, aber ich habe mich auch schon dabei ertappt, einige Wörter à la Québecoise auszusprechen, was mich darauf hoffen lässt, Ende April 2016 diese Varietät des Französischen verinnerlicht zu haben.
Insgesamt belege ich dieses Trimester 5 Kurse: Einen Kurs in Quebecer Literatur, einen Englischsprachkurs, und je einen Geschichtskurs in Mittelalterlicher (Wissen und Macht im Mittelalter), Moderner (Kanadische Geschichte bis 1840) und Neuester Geschichte (Religion und Gewalt in der Zeitgeschichte). Ich habe mich nicht nur geographisch, sondern auch inhaltlich von Europa entfernt, was auch einer der Gründe war, warum ich in Kanada weiterstudieren wollte.
Bisher bin ich sehr zufrieden mit meiner Kurswahl und arbeite wirklich gerne an all den Aufgaben, die ich im Wochentakt abliefern muss. Ich glaube, das liegt auch daran, dass die Arbeitsaufträge so unterschiedlich sind und es mir erlauben, mich auf ganz verschiedenen Ebenen weiter- und Kompetenzen auszubilden.
So arbeite ich gerade an einer fiktiven Aktualisierung der Biographie von Etienne Brulé, wie sie im Wörterbuch kanadischer Biographien geführt wird. Meine Aufgabe besteht darin, zu recherchieren, ob sich und was sich am Forschungsstand seit der Erstellung des Eintrags geändert hat.
Etienne Brulé, ein Franzose, lebte nach seiner Ankunft in Kanada mit den huronischen Ureinwohnern zusammen und wurde als vollwertiges Mitglied in die Gemeinschaft aufgenommen, schließlich aber unter nicht genau geklärten Umständen von ihnen umgebracht und verspeist. Vielleicht gelingt es mir ja, in den Tiefen irgendeines Archivs Licht in das Dunkel seines Umkommens zu bringen.
Diese Woche habe ich auch bereits sogenannte mi-session examens geschrieben. In Geschichte war die Klausur in 2 Teile gegliedert. Der erste Teil bestand darin, einen Fragenkatalog sehr präzise zu beantworten, während wir im zweiten Teil eine Dissertation zu einer Frage anfertigen und zwei kurze Quellenanalysen unter Beachtung einer Fragestellung durchführen mussten.
Meine Literaturklausur direkt im Anschluss verlangte mir mehrere Analysen von Texten Neufrankreichs bis zum 1900 Jahrhundert ab. Aber auch theoretische Konzepte hinter der literarischen Produktion der Zeit wurden abgefragt.
Neben meinen Verpflichtungen genieße ich auch das Studentenleben in vollen Zügen. Und das geht auf dem Campus ziemlich gut: Jede Woche finden an vielen Fakultäten sogenannte 5@8/11 statt, (das heißt, dass die Sause von 17 bis 20h/23h geht)die dann in Bars außerhalb des Campus ausklingen. Mich hat das Konzept, Parties (unter der Woche) bereits nachmittags zu beginnen, ganz und gar überzeugt, da man nicht allzu spät Heim kommt und den nächsten Tag ausgeschlafen beginnen kann. Bis vor einigen Wochen fanden die 5@8 im Freien statt, mittlerweile sind wir aber nach drinnen umgezogen, obwohl es noch gar nicht so kalt ist.
In Kanada ist es nicht gestattet, Alkohol in der Öffentlichkeit zu konsumieren. Anlässlich der Parties erhalten die Fachschaften eine Sondererlaubnis für ausgewiesene Zonen. Daran habe ich mich bisher noch nicht gewöhnen können und finde es auch ziemlich verwunderlich, warum dieses von 1901 stammende Gesetz immer noch in Kraft ist, vor allem innerhalb eines so trinkfreudigen Völkchens. Hier in Quebec kommt hinzu, dass faktisch nie die Prohibition in Kraft trat (als einzige Region in ganz Nordamerika!) und trotzdem wird es nicht gerne gesehen, sich noch ein Wegbier zu gönnen.
Weggefahren bin ich das eine oder andere Mal auch. Beispielsweise nach Québec City, die für eine Geschichtsstudentin natürlich besonders attraktiv ist, da man auf den Spuren des Beginns französischer Kolonisierung in Nordamerika wandeln kann. Dass ich mich eigentlich in einem größtenteils englischsprachigen Land befinde, habe ich erst mit meiner Ankunft in Toronto gemerkt, als mir das erste How are you doing? Zu Ohren kam. Neben den sprachlichen sind mir auch andere kleinere Unterschiede zu Québec aufgefallen: Dort werden fast ausschließlich nur französische Weine beworben und getrunken, während in Toronto sehr viel lokale Weinerzeugnisse angepriesen wurden. Ebenso gibt es in Québecer Supermärkten eine größere Käseauswahl, als in Toronto beispielsweise. Und an Stelle der omnipräsenten Poutine in Québec, wird einem in Toronto an jeder Straßenecke ein Hotdog angeboten.
Aufzuzeigen, dass die Provinz Québec sich derartig vom Rest Kanadas unterscheidet und konsequenterweise einen unabhängigen Staat Québec formen sollte, hat die Partei des Bloc Québecois anlässlich der kanadischen Parlamentswahlen propagiert. Mein Mitbewohner, der für die Kandidatin des Blocs Wahlkampfhelfer war, hat mir erklärt, dass der (für ihn) größte und unüberbrückbare Unterschied in der Art der Regierungsführung liege. So kritisiert er beispielsweise, dass die (nun nicht mehr aktuelle) Regierung in anglophoner Tradition viel mehr Budget für den Militäretat etc. vorsieht, als es eine frankophon geprägte Volksvertretung tun würde.
Momentan scheint diese Meinung nicht mehrheitsfähig in der Québecer Bevölkerung zu sein. Denn so haben sie, wie der Rest Kanadas auch, mit der Wahl Trudeaus zum Premierminister für einen politischen Wechsel gestimmt. Justin Trudeau, Sohn des sehr populären und québecer Premierministers Pierre Trudeau, hat bereits klar gemacht, dass es mit ihm ein autonomes Québec nicht geben werde. Somit tritt er in die Fußstapfen seines Vaters, der damals darauf bestand, dass ein losgelöstes Québec das letzte sei, was er sich für Kanada und für Québec wünsche.

Ich hoffe, dass euch mein Beitrag gefallen hat und ihr die noch kommenden auch lesenswert findet!

Liebe Grüße

Filiz

PS: Für die frankophonen LeserInnen unter uns, habe ich euch den Link zu einem Artikel beigefügt, den ich für die Campus Zeitung verfasst habe und in dem ich von meinen ersten Erfahrungen berichte 🙂

http://www.lecollectif.ca/le-quebec-cest-correct/

 

 

Herbstspaziergang in Sherbrooke
Yeah, eingeschrieben!
Mein zweites Zuhause 🙂
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Der Campus in Sherbrooke

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Quebec City
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Das alte Rathaus in Toronto
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Die Niagara- Fälle!!

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Halloween feiert man natürlich auch in Québec 🙂
Veröffentlicht am | Veröffentlicht in Allgemein