Vorgeschichte II: Wahrnehmungen und​ Stereotype vom Osmanischen Reich

Neben die faktischen Verflechtungen trat auch eine verstärkte wechselseitige Wahrnehmung. Im späten 19. Jahrhundert genoss der osmanische „Orient“ im Deutschen Reich große publizistische Aufmerksamkeit. Hier wurden negative Bilder geprägt, die auch die spätere Wahrnehmung der Armeniergräuel durch deutsche Beobachter beeinflussen sollten.

Der „Orient“ zwischen Schaudern und Faszination

Jean-Auguste-Dominique Ingres: Odalisque à l'esclave (1842). Bild auf Bestellung durch König Wilhelm I. von Württemberg. URL: http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Jean-Paul_Flandrin_-_Odalisque_with_Slave_-_Walters_37887.jpg.
Jean-Auguste-Dominique Ingres: Odalisque à l'esclave (1842). Bild auf Bestellung durch König Wilhelm I. von Württemberg. URL: http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Jean-Paul_Flandrin_-_Odalisque_with_Slave_-_Walters_37887.jpg.

Der osmanische „Orient“, das „Morgenland“, war mit Palästina als Ursprungsort des Christentums und Ägypten als Wiege der abendländischen Kultur seit jeher eine Projektionsfläche für Weltwahrnehmungen – auch im Deutschen Reich. Dieser Orient hatte sich im 19. Jahrhundert weit nach Osten verschoben:

„Mit O. oder Morgenland bezeichnete man früher im allgemeinen die östlich von Italien gelegenen Länder. Jetzt versteht man darunter gewöhnlich Asien und den nordöstl. Teil Afrikas“,

so Brockhaus‘ Konversationslexikon 1894.

Tatsächlich war der „Orient“ kein geographischer Raum, sondern ein im öffentlichen Sprachgebrauch verankertes Etikett, ein gedanklich vorgestellter Raum, der in Westeuropa seit dem Mittelalter sowohl Faszination als auch Schaudern hervorrief. Er verband sich seit den Kriegen mit dem Osmanischen Reich mit der Vorstellung von der „Türkengefahr“ und mit dem Islam als Gegenpol zum christlichen Europa. Neben diese Angst trat seit dem 18. Jahrhundert aber auch die Wahrnehmung einer osmanischen Schwäche, mit der eine positive Aufwertung des Orients einherging. Im Zuge der neu erwachenden Türkenbegeisterung gingen türkische Themen in die Musik ein, wurden osmanische Stile in Architektur, Mode und Dekoration nachgeahmt, osmanische Waffen und Uniformen gesammelt und in Museen gezeigt, türkische Motive in die Malerei eingebracht.

Überhaupt war der „Orient“ eine Projektion von Sinnlichkeit und Genuss. Neben die Ästhetik osmanischer Dekoration und türkischer Klänge trat die stereotype Vorstellung von verführerischen Frauen, vom Harem als Ort sexueller Verfügbarkeit. Die orientalischen Frauen wurden als nachahmenswert klug und gleichzeitig lasterhaft müßiggängerisch beschrieben. Der geheimnisvolle und sinnliche „Orient“ galt insgesamt als „weiblich“ im Gegensatz zum „männlichen“, durch Materialismus und Rationalität geprägten Westen. Der „Orient“ wurde so zum Gegenpol Europas und zum Inbegriff des „Anderen“, zum fremdartigen, verlockenden und zugleich Schauder erregenden Schauplatz der Fremdartigkeit. Er stabilisierte dabei vor allem auch westeuropäische Selbstbilder.

Turkophile Euphorien um die Jahrhundertwende im deutschsprachigen Raum

Kaiser Wilhelm mit Gattin in Jerusalem, 1898, aus der G. Eric and Edith Matson Photograph Collection, Library of Congress, Reproduction Number: LC-DIG-matpc-04601 (digital file from original photo).
Kaiser Wilhelm mit Gattin in Jerusalem, 1898, aus der G. Eric and Edith Matson Photograph Collection, Library of Congress, Reproduction Number: LC-DIG-matpc-04601 (digital file from original photo).

Die unterschiedlichen Ethnien im osmanisch-„orientalischen“ Raum wurden unterschiedlich gewertet und mit rassischen Charaktermerkmalen versehen. Zugleich wurden sie miteinander verglichen; so formulierte beispielsweise Hugo Grothe 1900:

„Fast jeder, der in den Provinzen mit dem Kern des Volkes in Berührung kommt, lernt die Türken achten und lieben, den Griechen geringschätzen, den Armenier hassen und verachten.“

Tatsächlich herrschte im Deutschen Reich um die Jahrhundertwende eine regelrechte Begeisterung für die Türken im Osmanischen Reich, denen viele eine strahlende Zukunft prophezeiten. Anders als das heute noch bekannte Bild vom „kranken Mann am Bosporus“ suggeriert, galt das Osmanische Reich in Deutschland nicht als dem Untergang geweiht; neben den als dekadent wahrgenommenen Nachbarn traute man den Türken weit mehr zu.

Es verwundert daher nicht, dass Kaiser Wilhelm II. auf seiner Palästinareise 1898 auch Konstantinopel aufsuchte, nachdem er Sultan Abdülhamid II. schon 1889 besucht hatte. Auf seiner zweiten Orientreise ernannte er sich zum Freund aller „Mohammedaner“. Begleitet wurde der deutsche Kaiser unter anderem vom evangelischen Pfarrer und liberalen Politiker Friedrich Naumann. Er gehörte zu jenen, die auch im deutschen Interesse für eine enge Verbindung zum Osmanischen Reich eintraten und dabei ein sehr positives Türkenstereotyp entwickelten. Aus realpolitischen Motiven erklärte er: "Unsere Politik im Orient ist auf lange hinaus festgelegt, wir gehören zur Gruppe der Protektoren der Türkei." Auch Ernst Jaeckh, dem Naumann 1909 eine Reise in das Osmanische Reich angeraten hatte, warb in der deutschen Öffentlichkeit für die jungtürkische Bewegung und bekräftigte die positiven Türkenstereotype, indem er die „Türken […] als den einzigen ,Gentleman des Orients´, als ein Volk – aufrichtig und ehrlich, genügsam und klug, tapfer und treu“ darstellte und in seinen Schriften die deutsch-türkische Freundschaft gegen den deutsch-englischen sowie deutsch-russischen Gegensatz stets betonte.

Armenophobien und Armenophilien im Deutschen Reich

Karl May, verkleidet als Kara Ben Nemsi mit osmanischer Kopfbedeckung. Karl May ließ sich gerne in der Verkleidung seines Romanhelden fotografieren. URL: http://www.karl-may-gesellschaft.de/kmg/fotos/kostuem/kbn2.jpg.
Karl May, verkleidet als Kara Ben Nemsi mit osmanischer Kopfbedeckung. Karl May ließ sich gerne in der Verkleidung seines Romanhelden fotografieren. URL: http://www.karl-may-gesellschaft.de/kmg/fotos/kostuem/kbn2.jpg.

Während die Armenier im Osmanischen Reich selbst im späten 19. Jahrhundert noch als „treue Millet“ galten, wurden sie im deutschen Sprachraum vor allem als negativer Gegenpol zu den positiv besetzten Türken wahrgenommen. Die zur Rasse umdefinierten Armenier (im Osmanischen Reich selbst hatte sich das Denken in rassischen Kategorien nicht durchgesetzt) wurden mit Bildern und Vorstellungen belegt, die an antisemitische Stereotype erinnern; oft wurden Armenier und Juden explizit und abwertend gleichgesetzt. Man schrieb den Armeniern „Verschlagenheit“ und „Intrigensucht“ zu. Als angeblich „geborenes Verbrechervolk“ wurden ihnen Begriffe wie „Schmarotzer“ oder „Parasit“ zugeordnet. Massaker an den Armeniern in den 1890er Jahren wurden zur „Nothwehr der Türken“ umgewertet, die sich gegen „die Charaktereigenschaften dieser Rasse, ihre Verschlagenheit und die aufrührerischen Umtriebe“ (Alfons Freiherr Mumm von Schwarzenstein, 1896) durchsetzen mussten.

Das wohl berühmteste Beispiel für das negative deutsche Armenierbild dieser Zeit ist Karl May, der einige seiner Erzählungen auch im „Orient“ spielen ließ. Im „Reich des silbernen Löwen“ zitierte May 1898 aus einem Aufsatz Friedrich Naumanns, der nach der erwähnten Orientreise die Aussagen eines deutschen Töpfermeisters wiedergegeben hatte:

„Ich bin ein Christ und halte die Nächstenliebe für das erste Gebot, und ich sage, die Türken haben recht gethan, als sie die Armenier totschlugen. Anders kann sich der Türke vor dem Armenier nicht schützen, von dem seine Noblesse, Trägheit und Oberflächlichkeit auf das unverantwortlichste ausgenutzt wird. Der Armenier ist der schlechteste Kerl von der Welt. Er verkauft seine Frau, seine noch unreife Tochter, er bestiehlt seinen Bruder. Ganz Konstantinopel wird von den Armeniern moralisch verpestet.“

Auf der anderen Seite gab es nur vereinzelte armenophile Stimmen wie jene des evangelischen Pfarrers Johannes Lepsius, der die Armenier als Kulturvolk beschrieb und zum Schutz dieser verfolgten Christengemeinschaft aufrief.


Autorin: Jelena Menderetska


Begriffe

Kranker Mann am Bosporus: Dieser Begriff wurde im 19. Jahrhunder geprägt. So sprach etwa der russische Zar Nikolaus I. 1852 gegenüber dem britischen Botschafter vom "kranken Mann am Bosporus". In der Folge entwickelte sich dieser Begriff zum Topos, der die zunehmende Schwäche und Abhängigkeit des Osmanischen Reiches von den europäischen Großmächten kennzeichnete. Im Englischen war vom "sick man of Europe" die Rede.


Personen

Friedrich Naumann (1860-1919) war ein liberaler Politiker und evangelischer Theologe, der die jungtürkische Revolution in den deutschen Medien unterstützte. Naumanns Denkmuster entsprachen dem wilhelminischen Militarismus mit seiner Flotten- und Kolonialpolitik, gleichzeitig fordert er in seinem 1915 erschienenen Werk „Mitteleuropa“ einen liberalen Militarismus mit einer Abmilderung der Kriegsziele und einer engen wirtschaftlichen Föderation mit Ost- und Südosteuropa.

Ernst Jäckh (1875-1959) war ein politischer Publizist, der die jungtürkische Revolution in den deutschen Medien unterstützte. Nach seiner Orientreise veröffentlichte er 1911 sein Buch „Der aufsteigende Halbmond. Auf dem Wege zum deutsch-türkischen Bündnis“. Als turkophiler Intellektueller propagierte er die Nahostexpansion des deutschen Imperialismus.

Karl May (1842-1912) war einer der erfolgreichsten Trivialliteratur-Autoren des 19. Jahrhunderts in Deutschland und zählt zu einem der meistgelesenen Schriftsteller der Welt. Die Weltauflage liegt bei über 200 Millionen Bänden. Seine Abenteuerromae und Reiseerzählungen (z.B. Winnetou-Trilogie, Im Reich des silbernen Löwen, Orientzyklus) spielen an exotischen Schauplätzen, wie im Wilden Westen und dem Vorderen Orient.

Johannes Lepsius (1858-1926) war evangelischer Missionar und Mitbegründer der Deutschen Orientmission. In Folge des Armeniermassakers 1894-1896 gründete er 1896/1897 das Armenische Hilfswerk. Eines der wichtigsten Werke von Lepsius ist seine 1919 veröffentlichte Publikation „Deutschland und Armenien 1914–1918: Sammlung diplomatischer Aktenstücke“.


Quellen und Literatur zum Weiterlesen:

Materialien zur „Türkenfurcht“ und „Türkenfaszination“:

Konrad, Felix: Von der 'Türkengefahr' zu Exotismus und Orientalismus: Der Islam als Antithese Europas (1453–1914)? In: Institut für Europäische Geschichte (Hg.): Europäische Geschichte Online. Mainz 2010. URL: http://www.ieg-ego.eu/konradf-2010-de (25.03.2015).

Im Virtuellen Museum „Karlsruher Türkenbeute“ zum Thema „Europa und die Osmanen“: http://www.tuerkenbeute.de/kun/kun_eur/

Darunter unter anderem „Das Türkenbild in der Kunst Europas“: http://www.tuerkenbeute.de/kun/kun_eur/TuerkenbildKunstEur_de.php sowie „Turquerie, Turkomanie, ,alla turca´ - Die Türkenmoden Europas“: http://www.tuerkenbeute.de/kun/kun_eur/ModenTurquerie_de.php

Zum Orientalismus in der Malerei:

Wartenberg, Susanne: Faszination Orient. In: Museum Giersch (Hrsg.): Faszination Fremde. Bilder aus Europa, dem Orient und der Neuen Welt. Frankfurt am Main 2013, 85-91.

 

Die deutsche Wahrnehmung des Osmanischen Reiches und der Türken:

Pataki, Zita Ágota: Reisen bildet. Orientreisen und Stereotypen in Text und Bild. In: Agai, Bekim / Pataki, Zita Ágota (Hg.): Orientalische Reisende in Europa – Europäische Reisende im Nahmen Osten: Bilder vom Selbst und Imaginationen des Anderen. Berlin 2010 (Bonner Islamstudien 19), S. 169- 202.

Spohn, Margret: Alles getürkt : 500 Jahre (Vor)Urteile der Deutschen über die Türken. 1999 Oldenburg. URL: http://oops.uni-oldenburg.de/664/1/697.pdf (25.03.2015).

Das Osmanische Reich als schlafende Osmanin in einer humoristischen Karte von Europa 1870: http://de.wikipedia.org/wiki/Europ%C3%A4ische_Identit%C3%A4t#/media/File:Humoristische_Karte_Europa_1870.jpg (25.03.2015).

 

Die Wahrnehmung der Armenier in der deutschen Öffentlichkeit am Beispiel Karl May, Friedrich Naumann und Johannes Lepsius:

Rondholz, Eberhard: „Der Armenier ist der schlechteste Kerl von der Welt“. Völkerpsychologische Stereotypen bei Karl May. In: Neue Rheinische Zeitung, Online-Flyer Nr. 127 vom 02.01.2008. URL: http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=11913 (25.03.2015).

Biermann, Joachim: Friedrich Naumann und die Datierung des zweiten ›Silberlöwen‹-Bandes. In: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft 2007, S. 9-20. URL: http://www.karl-may-gesellschaft.de/kmg/seklit/JbKMG/2007/9.pdf (25.03.2015).

Karl May Texte online: http://www.karl-may-gesellschaft.de/kmg/primlit/index.htm

Ausschnitt aus Im Reiche des Silbernen Löwen II, S. 477: http://www.karl-may-gesellschaft.de/kmg/primlit/reise/loewe_12/gr27/kptl_6.htm (25.03.2015).

Schmohl, Hans-Walter: Friedrich Naumann und die Armenische Frage. Die deutsche Öffentlichkeit und die Verfolgung der Armenier vor 1915. In: hist.net, August 2001, URL: http://www.hist.net/kieser/aghet/Essays/EssaySchmuhl.html (25.03.2015).

Naumann, Friedrich: Asia: Athen, Konstantinopel, Baalbek, Damaskus, Nazaret, Jerusalem, Kairo, Neapel. Berlin 1899.

Naumann, Friedrich: Mitteleuropa. Berlin 1915.

Jäckh, Ernst: Der aufsteigende Halbmond. Auf dem Wege zum deutsch-türkischen Bündnis. Stuttgart4 1915.

Jäckh, Ernst: Die deutsch-türkische Waffenbrüderschaft. Stuttgart 1915.

Saupp, Norbert: Das Deutsche Reich und die armenische Frage 1878-1914. Inaugural-Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades. Köln 1990.

Pschichholz, Christin: Die „armenische Frage“ im kolonialen Kontext: Nationalprotestantische Sichtweisen zwischen konfessionellem Antagonismus, Rassismus und theologischer Überhöhung. In: Zeitschrift für Genozidforschung, Bd.9 /2008, S. 68-92.

 

Biographien zu den Personen:

Heuss, Theodor: Naumann, Friedrich. In: Neue Deutsche Biographie 18 (1997), S. 767-769. Online: http://www.deutsche-biographie.de/ppn118738178.html [11.04.2015].

Mogk, Walter: Jäckh, Ernst. In: Neue Deutsche Biographie 10 (1974), S. 264–267. Online: http://daten.digitale-sammlungen.de/0001/bsb00016327/images/index.html?seite=278 [11.04.2015].

Deeken, Annette: May, Karl. In: Neue Deutsche Biographie 16 (1990), S. 519-522 Online: http://www.deutsche-biographie.de/ppn118818651.html [11.04.2015].