Interpretationen

Die Rolle des deutschen Bündnispartners im Völkermord an den Armeniern wird seit vielen Jahren kontrovers diskutiert und charakterisiert. Einige Positionen haben wir hier für die eigene Auseinandersetzung - etwa auch im Schulunterricht - zusammengestellt. Die Liste wird weiter ergänzt.

Kontroversität (Rückblickende Positionen)


Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin a.D., Präses der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland:

"Das Deutsche Reich, mit den Osmanen im Ersten Weltkrieg verbündet, tat nichts, um dieses Verbrechen zu verhindern. Die deutsche Regierung war zu jedem Zeitpunkt über die Pläne und Maßnahmen der Regierung des Osmanischen Reiches informiert. Wie weit die Unterstützung der Reichsregierung für dieses Verbrechen am armenischen Volk ging, werden wissenschaftliche Veröffentlichungen und Diskussionen zeigen. Das Auswärtige Amt hat inzwischen die in seinen Archiven befindlichen Unterlagen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Daraus wird erschreckend deutlich, mit welchem Zynismus deutsche Politiker und Diplomaten die Vernichtung des armenischen Volkes erörterten und zuließen."
(Die Mitschuld klar benennen. In: Chrismon, 04.2015, S. 10.)


 Multiperspektivität (Zeitgenössische Positionen)


Liman von Sanders: Fünf Jahre Türkei. Berlin 1920, S. 201:

"Ganz unverständlich bleibt aber, wie in weitewn Kreisen die levantinischen Verleumdungen Gehör finden konnten, daß deutsche Offiziere an den Armenierverfolgungen beteiligt waren. Die ganz geringe Zahl von ihnen, welche überhaupt bei den Städten und Truppenteilen im armenischen Gebiet tätig war, hatte ausreichend zu tun, um unter den schwierigsten Verhältnissen der Ernährung und Ausbildung ihre militärische Stellung auszufüllen. Die deutschen Offiziere wurden oft nicht einmal über die militärischen Vorgänge und Maßnahmen durch die türkischen Befehlshaber ausreichend orientiert, geschweige denn über innenpolitische. Ihre Stellung wird gänzlich falsch beurteilt, wenn man glaubt, daß sie irgendeinen anderen Einfluß ausüben konnten als den genau umgrenzten ihres Dienstranges, über dessen Umfang die Türken eifersüchtig wachten. -
Daß diese Verdächtigungen auch auf mich übergegriffen haben, ist für jeden Kenner türkischer Verhältnisse nicht erstaunlich. Nach dem unglücklichen Ausgang des Krieges mußte von den Levantinern jegliche Schuld den Deutschen zugeschoben werden. Ein Blick auf die Karte hätte jeden Einsichtigen sofort überzeugen können, daß meine militärische Tätigkeit in der Türkei als Armeeführer sich im äußersten westlichen Kriegsgebiet des osmanischen Reiches vollzogen hat, in einer Entfernung von Armenien, die weit 1000 km überschritt."

Paul von Hindenburg: Aus meinem Leben, Hamburg 2013, ursprünglich Leipzig 1920, S. 162-163:

"Weit schwieriger als unser Einfluß auf die außenpolitischen Probleme der Türkei mußte natürlich unser Einfluß auf innere Verhältnisse dieses Reiches sein. Und doch konnten wir uns wenigstens des Versuches solcher Schritte nicht völlig entschlagen. Nicht nur die primitiven wirtschaftlichen Zustände gaben hierzu Veranlassung sondern auch allgemein menschliche Empfindungen.
Das überraschende nochmalige Aufleben osmanischer Kriegskraft, das Wiederaufflammen früheren Heldentumes in diesem Daseinskampf beleuchtete gleichzeitig die dunkelste Seite der türkischen Herrschaft: ich meine ihr Vorgehen gegen die armenischen Volksteile ihres Gebietes. Die armenische Frage barg eines der allerschwierigsten Probleme für die Türkei in sich. Sie berührte sowohl den pantürkischen wie auch den panislamitischen Ideenkreis. Die Art, wie sie von fanatischer türkischer Seite zu lösen versucht wurde, hat die ganze Welt während des Krieges beschäftigt. Man hat uns Deutsche mit den grausigen Vorkommnissen in Verbindung bringen wollen, die sich in dem ganzen osmanischen Reiche und gegen Schluß des Krieges auch im armenischen Transkaukasien abspielten. Ich fühle mich daher verpflichtet, sie hier zu berühren, und habe wahrlich keinen Grund, unsere Einwirkung mit Stillschweigen zu übergehen. Wir haben nicht gezögert, in Wort und Schrift einen hemmenden Einfluß auf die wilde, schrankenlose Art der Kriegführung auszuüben, die im Orient durch Rassenhaß und Religionsfeindschaften in traditionellem Gebrauch war. Wir haben wohl zusagende Äußerungen maßgebender Stellen der türkischen Regierung erhalten, waren aber nicht imstande, den passiven Widerstand zu überwinden, der sich gegen diese unsere Einmischungen richtete. So erklärte man beispielsweise von türkischer Seite die armenische Frage als lediglich innere Angelegenheit und war sehr empfindlich, wenn sie von uns berührt wurde. Auch unsere manchmal an Ort und Stelle befindlichen Offiziere erreichten nicht immer eine Abmilderung der Haß- und Racheakte. Das Erwachen der Bestie im Menschen beim Kampf auf Leben und Tod, im politischen und religiösen Fanatismus, bildet eines der schwärzesten Kapitel in der Geschichte aller Zeiten und Völker."

Das Armenische Volk. Bericht des Pfarrers Grafen von Lüttichau über seine persönlichen Beobachtungen und Feststellungen im Sommer 1918. Anlage zum Schreiben des Direktors der Orient- und Islam-Kommission des Deutschen Evangelischen Missions-Ausschusses Karl Axenfeld an das Auswärtige Amt, Berlin, den 18. Oktober 1918 (URL: http://www.armenocide.net/armenocide/ArmGenDE.nsf/$$AllDocs/1918-10-18-DE-001):

"Nicht nur die Feinde, auch die breite Masse des Volkes belastet uns mit der Schuld, eine Bürde, an der wir noch lange schwer tragen werden. Der Glaube an unsere Schuld sitzt auch bei den Armeniern selbst so unausrottbar fest, dass man aus Zorn und Scham zugleich rot werden möchte. Wie konnte es dahin kommen? Dass wir mittelbar insofern die Schuld tragen, als wir die Türkei in den Krieg genötigt und damit die Situation geschaffen haben, in der das überhaupt nur möglich war, ist deutlich, fällt aber nicht ins Gewicht. Bedenklicher ist, dass leider zu wiederholten Malen höhere deutsche Offiziere, ohne sich der politischen Konsequenzen bewusst zu sein, ausschliesslich strategisch militärischen Gesichtspunkten stattgebend, Aeusserungen getan haben, die schweren Schaden anrichteten. Es ist sehr wohl möglich, dass solche Aeusserungen absichtlich provoziert und dann geflissentlich verbreitet wurden. Gerade darin ist der Türke ein Meister, wenn er einen braucht, der ihm die Verantwortlichkeit abnimmt und nach aussen als Sündenbock erscheint. Dass hier Fehler begangen worden sind, nicht aus böser Absicht, sondern aus mangelnder Einsicht, muss zugegeben werden. Im übrigen aber ist es mir zur Gewissheit geworden, was schon vorher meine Ueberzeugung war, dass die Parole "Deutschland will es" von den regierenden Kreisen selbst ausgegeben wurde. Von Ohrenzeugen wurde mir zum Beispiel in Malatia folgendes berichtet: Als der Abgeordnete von Malatia, Haschim Bey, im Spätherbst 1915 oder Frühjahr 1916 von seiner Sitzungsperiode in Konstantinopel nach Malatia zurückkehrte, versammelte er alle Notabeln der Stadt, um ihnen mitzuteilen, er sei selber dabeigewesen, wie eines Tages der deutsche Botschafter auf der Hohen Pforte erschienen wäre, um offiziell im Namen seiner Regierung der Kaiserlich osmanischen Regierung seine Glückwünsche auszusprechen zu der umfassend durchgeführten und glänzend gelungenen Ausrottung des armenischen Volkes. Eine solche Schamlosigkeit übersteigt alle Grenzen. Man muss bedenken, wie abgeschnitten von der Welt die Städte des Ostens sind. Man lebt in Malatia wie auf einer Insel des Stillen Ozeans. Selbst in den Tagen des Thronwechsels erfuhr man nichts Gewisses. Kein Kriegsbericht störte das friedliche Behagen der Besitzenden in jener reichen Gegend. Wenn da einer kommt, der auf seine Augen und Ohren hindeuten kann und einen Bericht aus Stambul bringt, so ist das ebenso wahr, als hätte der Prophet gesprochen. Hier liegt die Hauptschuld. Noch aber sind die Akten über die Katastrophe nicht geschlossen, und es ist dringend zu hoffen, dass auch wir noch einmal das Wort ergreifen. Deutschland hat allerdings lange genug und heftig genug protestiert - auf der Hohen Pforte, nicht aber in der Oeffentlichkeit. Es wird noch eine Stunde kommen müssen, in der das Versäumte nachgeholt wird, sonst würde am Ende der türkische Hauptmann, der zwischen Malatia und Sivas sitzt und sich peinlich genau chronikartig alles Schändliche notiert hat, was seine Landsleute vollbrachten, recht behalten mit seinem Wort: „Wenn die deutsche Regierung sich nicht noch reinigt von der Schmach, die auf ihr liegt, so muss ich sie noch mehr verachten als die unsrige.“ Er glaubt nicht an Deutschlands Schuld, hat aber ein starkes Empfinden für die Schande, die allein schon mit dem bösen Schein gegeben ist. Er hat sicherlich recht und eine Reinigung wird noch einmal kommen müssen, um unseres deutschen und um des Christennamens willen."