Armeniergräuel 1915/16: Wirtschaft

Für Vertreter der deutschen Wirtschaft ging es im Osmanischen Reich oft um gewaltige Investitionen. In der alltäglichen Praxis arbeiteten sie dazu mit Untertanen verschiedner Ethnien und Religionen des Osmanischen Reiches zusammen. Die Deportation armenischer Arbeiter 1915/1916 und die Kreditausfälle armenischer Schuldner in dieser Zeit gefährdeten ihren wirtschaftlichen Erfolg.

Bagdadbahn, deutsche Banken und Gesellschaften

Armeniertransport (© Deutsche Bank, Historisches Institut). Dazu Günther an Gwinner: "Es sind das unsere sogenannten Hammelwagen, in denen beispielsweise 880 Menschen in 10 Wagen befördert werden." Es handelt sich hierbei um einen Wagen der Anatolischen Eisenbahn-Gesellschaft (nicht der Bagdadbahn).
Armeniertransport (© Deutsche Bank, Historisches Institut). Dazu Günther an Gwinner: "Es sind das unsere sogenannten Hammelwagen, in denen beispielsweise 880 Menschen in 10 Wagen befördert werden." Es handelt sich hierbei um einen Wagen der Anatolischen Eisenbahn-Gesellschaft (nicht der Bagdadbahn). Quellenkritische Hinweise zur Fotografie finden sich unter http://www.bankgeschichte.de/de/content/780.html, Stichwort: 30.10.1915 - "Sie pferchten 880 Menschen in 10 Wagen".

Bereits 1875 hatte das Osmanische Reich die Zahlung seiner Außenschulden nicht mehr leisten können. Daraufhin wurde ein Conseil d‘Administration de la Dette Publique Ottomane mit der Bedienung der osmanischen Staatsschulden beauftragt, ein osmanisches Verwaltungsorgan, das aber der Kontrolle europäischer Staaten (vor allem Frankreich und Großbritannien) unterlag und einen großen Teil der osmanischen Steuern für den Schuldendienst abzog. Zeitgleich kam es auch in der deutschen Politik zu imperialistischen Bestrebungen. Als Absatzmarkt für deutsche Produkte war das Osmanische Reich zwar nur bedingt geeignet, doch gab es unter deutschen Unternehmen durchaus Hoffnung auf eine positive Entwicklung. Vor allem aber war es der Reichsleitung und dem Kaiser selbst, die vorrangig deutsche Vorteile im Blick hatten, ein Anliegen, mit dem Osmanischen Reich in engere wirtschaftliche Verflechtungen zu kommen.

Zu den größten deutschen Projekten vor Ort gehörte die Bagdadbahn, deren Bau einem Konsortium unter der Leitung der Deutschen Bank, der Anatolischen Eisenbahngesellschaft, anvertraut wurde. Die wichtigsten Firmen beim Bau der Bahn (Philipp Holzmann, Friedrich Krupp AG und andere) kamen ebenfalls aus dem Deutschen Reich. In der Fläche noch aktiver als die Deutsche Bank war die Deutsche Orientbank, die 1906 auf Initiative der Dresdner Bank gegründet worden war und ein deutlich größeres Filialnetz unterhielt, um finanziellen Einfluss im Nahen Osten zu entwickeln. Die Deutsche Bank hingegen gründete Gesellschaften wie die Deutsch-Levantinische Baumwollgesellschaft und die Anatolische Industrie- & Handelsgesellschaft, um in die produzierende Wirtschaft hineinzuwirken. Insbesondere deutsche Rüstungsproduzenten profitierten zudem von der engen militärischen Zusammenarbeit der beiden Reiche.

Die Haltung deutscher Wirtschaftsvertreter zu den Armeniergräueln

Verlauf der Anatolischen Eisenbahn und der Bagdadbahn bis in den Ersten Weltkrieg.
Verlauf der Anatolischen Eisenbahn und der Bagdadbahn bis in den Ersten Weltkrieg.

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All diesen Unternehmungen war gemeinsam, dass sie vor Ort mit Türken, Griechen, Armeniern und anderen Untertanen des Osmanischen Reiches arbeiteten. Auf diese Weise erlebten sie 1915 auch in der eigenen Geschäftspraxis die Auswirkungen der Deportationen und Massaker. Deutsche Wirtschaftsvertreter standen dem Umgang der jungtürkischen Führung mit den Armeniern kritisch gegenüber. So kritisierte der stellvertretende Generaldirektor der Anatolischen Eisenbahn-Gesellschaft Franz Günther in einem Schreiben an seinen Vorgesetzten Arthur von Gwinner, dass die Deportationen den Handel gefährdeten. Die Türken galten unter den Deutschen als kaufmännisch unbegabt, sodass der Handel durch Armenier im finanziell ohnehin angeschlagenen Osmanischen Reich für viele deutsche Akteure unverzichtbar war. Günther warnte gar vor einem möglichen Staatsbankrott des Landes. Es kam jedoch nicht zum Widerstand der Unternehmer, da sich das Deutsche Reich im Krieg auf den Bündnispartner angewiesen glaubte – und deutsche Unternehmungen waren von guten Beziehungen und intensiver Zusammenarbeit mit dem Auswärtigen Amt in hohem Maße abhängig.

Vor allem wirtschaftlich motiviert waren die Interventionen bei Enteignungen von Armeniern im Zuge des "Gesetzes über die Liquidation des Vermögens verschickter Personen". Oft handelte es sich bei den Deportierten entweder um armenische Schuldner, deren Kreditrückzahlungen jetzt ausblieben, oder um Vermögende, mit deren Kapital die Banken nun nicht mehr wirtschaften konnten. Ihr Eigentum sollte offenbar gezielt in osmanische Hände übergehen. So fiel dem deutschen Vizekonsul in Alexandrette auf:

"Forderungen gegen die verschickten Armenier aus dem Alexandretter Wirtschaftsgebiet (…) müssen in Antiochien (d.i. eine gute Tagesreise landeinwärts) oder (für Dörtjol) Osmanije (1 1/2 Tagesreisen) angemeldet werden. Die hiesigen Gläubiger müssen sich, den gesetzlichen Bestimmungen gemäß, dort einen Vertreter annehmen, was in jetziger Zeit seine Schwierigkeiten hat."

Das war in aller Regel nicht zu leisten.

Hilfsmaßnahmen

Auszug aus einem Schreiben von Franz Günther an Arthur von Gwinner (© Deutsche Bank, Historisches Institut).
Auszug aus einem Schreiben von Franz Günther an Arthur von Gwinner (© Deutsche Bank, Historisches Institut).

Unternehmensvertreter versuchten jedoch, Einfluss auf die deutsche Außenpolitik gegenüber dem jungtürkischen Komitee zu nehmen. So wandte sich etwa die Orientbank Mitte August 1915 an den deutschen Botschafter Fürst von Hohenlohe-Langenberg:

“Da […] ein Teil der ausgewiesenen Armenier die Schuldner unserer Bank oder die Schuldner deren Schuldner sind, so werden unsere Interessen durch dieses ungesetzliche Vorgehen aufs schwerste geschädigt. […] Wir ersuchen daher Ew. Durchlaucht zwecks Wahrung unserer Interessen und Anerkennung unserer Schadensersatzansprüche bei der Kaiserlich Ottomanischen Regierung das Erforderliche zu veranlassen.”

Was zynisch klingt, war im Grunde die stärkste Rechtfertigung der Orientbank für ihre Intervention; nur ökonomische Argumente, die aus ihrer Tätigkeit im Osmanischen Reich herrührten, waren für die deutsche auswärtige Politik gegebenenfalls Grund, dieses Anliegen weiterzuverfolgen.

Zugleich waren Bestrebungen aus der deutschen Wirtschaft erkennbar, eigene Arbeiter vor Deportationen und vor jungtürkischer Gewalt zu schützen. Im September 1915 schrieb Franz Günther in einer Depesche:

"Um fälschliche Interpretationen der ministeriellen Befehle durch zivile und militärische Lokalbehörden über die armenische Frage auszuräumen bitten wir Sie ihnen mitzuteilen, daß das Große Generalhauptquartier in Übereinstimmung mit dem Innenministerium im Prinzip unabänderlich festlegt, daß während des Krieges niemand die Eisenbahnorganisation antasten darf. Stop. Weder für den Betrieb noch für den Bau gibt es eine armenische Frage, und wenn trotzdem weiterhin Befehle gegeben werden, die gegen dieses Prinzip verstoßen, dann brauchen sie sich nicht daran zu halten, insofern als sie sich nicht mit uns in Verbindung gesetzt haben."

Am Ende waren solche Bemühungen jedoch meist erfolglos. Franz Günther berichtete von 19 Angestellten, die mit großer Wahrscheinlichkeit plötzlich verschleppt worden waren. Als er sie zurückverlangte, entgegnete man ihm:

„C‘est impossible de les restituer. Comprenez vous: impossible! – Ils ne reviendrons jamais plus.“


Autor: Alexander Ring


Übersetzung

C‘est impossible de les restituer. Comprenez vous: impossible! – Ils ne reviendrons jamais plus. Deutsch: Es ist unmöglich, sie zurückzubringen. Verstehen Sie: Unmöglich! Sie werden niemals mehr zurückkehren.


Begriffe

Conseil d‘Administration de la Dette Publique Ottomane war die Osmanische Staatsschuldenverwaltung, die 1881 in Folge der Einstellung der Schuldenzahlungen durch das Osmanische Reich 1875 und der Erklärung des Staatsbankrotts gegründet wurde. Neben den größten Gläubigern Frankreich und England gehörte u.a. auch das Deutsche Reich zu den Gründern dieser administrativen Einrichtung.

Personen

Arthur von Gwinner (1856 – 1931) war ein deutscher Bankier der von 1894 – 1919 eine Stelle im Vorstand der Deutschen Bank inne hatte, dessen Sprecher er ab 1910 war. Hier war er vor allem für die Auslandsgeschäfte, wie der Finanzierung der Bagdadbahn im Osmanische Reich, zuständig.

Fürst von Hohenlohe-Langenberg (1863 – 1950) war unter anderem Leiter der Kolonialabteilung des Auswärtigen Amtes (1905 – 1906) sowie von 1907 bis 1911 Abgeorneter des Reichstages. Ab 1915 war er als Sonderbotschafter mitunter in Konstantinopel tätig.


Orte

Alexandrette (heute Iskenderum) war ein osmanisches Verwaltungsgebiet mit hohem armenischen Bevölkerungsanteil.


Literatur zum Weiterlesen:

Beşirli, Mehmet: Die europäische Finanzkontrolle im Osmanischen Reich in der Zeit von 1908 bis 1914. Die Rivalitäten der britischen, französischen und deutschen Hochfinanz und der Diplomatie vor dem ersten Weltkrieg am Beispiel der türkischen Staatsanleihen und der Bagdadbahn. Berlin 1999.

Eichholtz, Dietrich: Die Bagdadbahn, Mesopotamien und die deutsche Ölpolitik bis 1918. Aufhaltsamer Übergang ins Erdölzeitalter. Mit Dokumenten. Leipzig 2007.

Feldman, Gerald D.: Die Deutsche Bank vom Ersten Weltkrieg bis zur Weltwirtschaftskrise 1914-1933, in: Gall, Lothar u.a. (Hg.): Die Deutsche Bank 1870-1995, München 1995, S. 137-314.

Kaiser, Hilmar: The Baghdad Railway and the Armenian Genocide, 1915-1916. A Case Study in German Resistance and Complicity, in: Hovannisian, Richard G. (Hrsg.), Remembrance and denial. The case of the Armenian genocide. Detroit Mich 1999, S. 67–112.

Kaiser, Hilmar: Armenian Property, Ottoman Law and Nationality Policies during the Armenian Genocide, 1915-1916, in: Farschid, Olaf (Hrsg.), The First World War as remembered in the countries of the eastern Mediterranean. (Beiruter Texte und Studien, 99) Würzburg 2006, S. 49–71.

Nagel, Jens: Zwischen Kapitalarmut und Kapitalexport. Frankfurt a.M. 1996.

Schuß, Heiko: Wirtschaftskultur und Institutionen im Osmanischen Reich und der Türkei. Ein Vergleich institutionenökonomischer und kulturwissenschaftlicher Ansätze zu Erklärung der wirtschaftlichen Entwicklung. Berlin 2008 (Schriftenreihe Wirtschaft des Vorderen Orients Bd. 1).

Schwanitz, Wolfgang G.: Gold, Bankiers und Diplomaten. Zur Geschichte der Deutschen Orientbank 1906 – 1946. Berlin 2002.

Üngör, Ugur Ümit/Polatel, Mehmet: Confiscation and Destruction. The Young Turk Seizure of Armenian Property. London [u.a.] 2011.