Nachgeschichte I: Offizielle Reaktionen nach 1918

Für die Weimarer Republik waren Kriegsverbrechen aus der Zeit des Ersten Weltkriegs ein Problem. Vorwürfe, das Kaiserreich habe Kriegsgräuel begangen, wirkten sich auf Verhandlungen zur Nachkriegsordnung negativ aus. Insofern musste das Kaiserreich von Vorwürfen freigehalten werden.

Johannes Lepsius und die „Wahrheit“ über die deutsche Beteiligung an den Armeniergräueln

Noch im Ersten Weltkrieg veröffentlicht Johannes Lepsius die Anklageschrift „Der Todesgang des armenischen Volkes“. Nach dem Ersten Weltkrieg legt er die lange maßgebliche Edition deutscher amtlicher Quellen zum Thema vor. Foto: Dilan Tas.
Noch im Ersten Weltkrieg veröffentlicht Johannes Lepsius die Anklageschrift „Der Todesgang des armenischen Volkes“. Nach dem Ersten Weltkrieg legt er die lange maßgebliche Edition deutscher amtlicher Quellen zum Thema vor. Foto: Dilan Tas.

Nach Beendigung des Ersten Weltkrieges 1918 wurde der in armenischen Kreisen geschätzte, nationalkonservative Theologe und Orientalist Johannes Lepsius von der deutschen Regierung beauftragt, Akten des Auswärtigen Amtes zu den Armeniergräueln zu sichten und diese zu veröffentlichen. Für das Dokumentenwerk „Deutschland und Armenien 1914-1918“ setzte das Auswärtige Amt eine eindeutige Vorgabe: Die Anschuldigung, das Kaiserreich sei Mitverantwortlicher oder sogar Initiator der Gräuel, sollte durch die Herausgabe der Akten widerlegt werden. In der Praxis bedeutete dies Streichungen und Eingriffe in jene Akten, die eine Mitverantwortung z.B. deutscher Militärs für Gewaltmaßnahmen gegen armenische Zivilisten belegen konnten. Die Veränderungen in den Texten nahm das Auswärtige Amt vor. Lepsius übernahm die Aktenabschriften in die Quellenedition, ohne eine Gegenprüfung vorzunehmen. Die Gründe für dieses wissenschaftliche Fehlverhalten lagen in seinem Bemühen, die Untaten des jungtürkischen Regimes an den Armeniern, für deren Wohl er schon seit den 1890er Jahren publizistisch gekämpft hatte, anhand staatlicher Akten zu dokumentieren. Dem Auswärtigen Amt hingegen ging es vor allem um die anstehenden Verhandlungen auf der Pariser Friedenskonferenz.

Dennoch gelang es Lepsius, mit Hilfe des späteren Staatssekretärs des Äußeren Wilhelm Solf mehr Text in die Edition hineinzubringen, als im Auswärtigen Amt eigentlich angestrebt worden war:

„Hätte ich nicht von der Solf’schen Erlaubnis rücksichtslosen Gebrauch gemacht, wäre nicht die Hälfte der wichtigen Aktenstücke ans Licht gekommen. Der betreffende Geheimrat, (…), versuchte immer, mir die Rosinen aus dem Kuchen herauszupolken, denn er wollte immer noch bei den Türken einen Stein im Brett behalten, die Hauptmissetäter schonen und auch das türkische Ungeziefer aus der Perücke der Botschafter herauskämmen.“

Duldung osmanischer Kriegsverbrecher in der Weimarer Republik

 Delegierte der Mittelmächte bei den Friedensverhandlungen in Brest-Litovsk, u.a. der osmanische Großwesir Talaat Pascha, Dezember 1917. Imperial War Museums, Bild Q 86724. URL: http://www.iwm.org.uk/collections/item/object/205330717.

Delegierte der Mittelmächte bei den Friedensverhandlungen in Brest-Litovsk, u.a. der osmanische Großwesir Talaat Pascha, Dezember 1917. Imperial War Museums, Bild Q 86724. URL: http://www.iwm.org.uk/collections/item/object/205330717.

In der letzten Phase des Ersten Weltkrieges hatte das Deutsche Reich einigen Führern des jungtürkischen Komitees die Flucht nach Deutschland ermöglicht. Zu ihnen gehörten unter anderem Talaat Pascha, Enver Pascha, Cemal Pascha, Doktor Nazim, Cemal Azmi und Bahaettin Şakir – mit Ausnahme Cemal Paschas, dessen Verantwortung für die Armeniergräuel bis heute nicht geklärt ist, also die Initiatoren der Vernichtung. Diese Fluchthilfe konnte die Weimarer Republik jedoch nicht öffentlich eingestehen. Aus außenpolitischen Gründen musste wenige Wochen vor Eröffnung der Leipziger Kriegsverbrecherprozesse der Eindruck vermieden werden, dass das Reich ehemalige Kriegsverbrecher (die zudem teilweise von einem osmanischen Kriegsgericht in Abwesenheit bereits zum Tode verurteilt worden waren) versteckt halte.

Die Initiative zur Flucht der jungtürkischen Führung war nicht von der kaiserlichen Regierung ausgegangen. Vielmehr ermöglichten einige eng mit Talaat Pascha verbundene deutsche Militärs die Ausreise. Weder lag eine staatliche Einladung noch ein geschütztes Asylrecht vor, für das während der Weimarer Republik die Gesetzesgrundlage fehlte. Dennoch erhielten die geflüchteten Jungtürken Unterstützung aus dem Umkreis Friedrich Eberts und des Auswärtigen Amtes. Offiziellen Auslieferungsersuchen des osmanischen Botschafters Ende 1918 kam das Deutsche Reich nicht nach. Stattdessen blieben die Exilanten mit gefälschten Pässen angeblich unauffindbar.

Im Versailler Vertrag erkannte die Weimarer Republik schließlich an, dass alle Verträge, die nach dem 1. August 1914 mit dem Osmanischen Reich geschlossen worden waren, aufgehoben waren. Damit lag keine Auslieferungsvereinbarung mehr zwischen beiden Staaten vor. So konnten sich die illegal eingereisten ehemaligen Staatsmänner fortan frei in Deutschland bewegen und aufhalten.

"Ich habe einen Menschen umgebracht, bin aber kein Mörder."

Meldung der Vossischen Zeitung zum Ende des Prozesses gegen Soghomon Tehlirian, 04.06.1921.
Meldung der Vossischen Zeitung zum Ende des Prozesses gegen Soghomon Tehlirian, 04.06.1921.

Am 15. März 1921 erschoss der armenische Student Soghomon Tehlirian Talaat Pascha in Berlin. Anfang 1922 wurde Tehlirian wegen Mordes vor dem Berliner Kriminalgericht angeklagt. Auf Druck des Auswärtigen Amtes dauerte der Prozess nur zwei Tage; eine eventuelle deutsche Mitschuld an den Verbrechen der ehemaligen Kriegsverbündeten zu erörtern, lag nicht im Interesse der deutschen Behörden. Dennoch fand er großes Echo in der Presse. Juristisch schien alles eindeutig: Tehlirian war auf frischer Tat ertappt worden. Die Argumentation der Verteidigung lief also darauf hinaus, die jungtürkischen Verbrechen umfassend zu schildern, die Schuld Talaat Paschas an der Vernichtung der Armenier herauszuarbeiten und so eine psychische Notlage Tehlirians abzuleiten. Die Taktik ging auf: Es fand weniger ein Prozess gegen den „Täter“ Tehlirian statt als vielmehr gegen das „Opfer“ Talaat Pascha. Zu diesem Zweck benannte die Verteidigung verschiedene Zeugen, darunter auch Johannes Lepsius und Liman von Sanders, den ehemaligen Leiter der deutschen Militärmission im Osmanischen Reich. Walter Rößler hingegen, der sich als deutscher Konsul in Aleppo für die Armenier im Osmanischen Reich eingesetzt hatte, wurde vom Auswärtigen Amt die Aussage vor Gericht untersagt. Er hatte in der internen Korrespondenz angekündigt, dass seine Aussagen die Jungtürken belasten würden:

"Ich würde dabei nicht umhin können, meiner Überzeugung Ausdruck zu geben, dass Talaat in der Tat einer derjenigen türkischen Staatmänner ist, welche die Vernichtung der Armenier gewollt und planmäßig durchgeführt haben. […] Ich würde auch eine Äusserung als echt bekunden müssen, die mir gegenüber der von Konstantinopel nach Aleppo entsandte Verschickungskommissar gemacht hat „Vous ne comprenez pas ce que nous voulons, nous voulons une Arménie sans Arméniens."

Nach einstündiger Beratung endete der Prozess mit einem Freispruch, der im Gerichtssaal mit Beifall aufgenommen wurde.


Autorin: Dilan Tas


Übersetzung

Vous ne comprenez pas ce que nous voulons, nous voulons une Arménie sans Arméniens. Deutsch: Sie verstehen nicht, was wir wollen, wir wollen ein Armenien ohne Armenier. [Armenien = historische Bezeichnung für das heutige Ostanatolien]


Literatur:

Der Prozess Talaat Pascha: Nicht ich bin der Mörder. Dokumentarisches Theaterstück. URL: https://sites.google.com/site/nichtichbindermoerder/ (23.03.2015).

› Spiegel der zeitgenössischen Presse hierzu (auch als Quellenmaterial für den Unterricht geeignet): https://sites.google.com/site/nichtichbindermoerder/literatur-tip-1/pressespiegel1921/Pressespiegel_1921_Der_Mord_an_Talaat_Pascha.pdf?attredirects=0 (23.03.2015).

› Gerichtsprotokoll zum Prozess: https://sites.google.com/site/nichtichbindermoerder/das-gerichtsprotokoll (23.03.2015) - ebenfalls als Quellenmaterial nutzbar.

Gust, Wolfgang: Magisches Viereck. Johannes Lepsius, Deutschland und Armenien. URL: http://www.armenocide.de/armenocide/armgende.nsf/GuidesView/MagischesViereckDe?OpenDocument (23.03.2015).

Mangold-Will, Sabine: Begrenzte Freundschaft. Deutschland und die Türkei 1918-1933. Göttingen 2013.

Siemens, Daniel: Metropole und Verbrechen. Die Gerichtsreportage in Berlin, Paris und Chicago 1919-1933. Stuttgart 2007.

Werkmeister, Christian: Johannes Lepsius und die Verbrechen an den Armeniern. Die Vorgeschichte der UN-Genozidkonvention. In: Steinbacher, Sybille (Hg.): Holocaust und Völkermorde. Die Reichweite des Vergleichs [Fritz Bauer Institut: Jahrbuch 2012 zur Geschichte und Wirkung des Holocaust], S. 83 –104.