Einwände gegen die Charakterisierung der Ereignisse als Völkermord

Wann immer weltweit von einem Völkermord an den Armeniern im Osmanischen Reich in den Jahren 1915 und 1916 gesprochen wird, kommt es zu Deutungskämpfen. Wir haben den Begriff des Völkermordes selbst nicht in den Mittelpunkt unserer Ausstellung gerückt, gehen aber selbstverständlich davon aus, dass es sich um einen Völkermord handelt. Auf die wichtigsten Einwände, die in dieser Frage üblicherweise erhoben werden, möchten wir hier eingehen.


Wissenschaftler seien zu objektiven Stellungnahmen verpflichtet. Objektivität bestehe aus der Behandlung eines Themas aus mehreren Blickwinkeln und vermeide Einseitigkeit.

Dieser Einwand ist nicht stichhaltig. Wissenschaftlichkeit ist auf intersubjektive Nachprüfbarkeit verpflichtet und ansonsten ein Prozess diskursiver Interaktion.

Unsere Darstellungen beruhen auf Forschungen von Historiker/innen, deren Arbeiten durchweg den Prinzipien intersubjektiver Nachvollziehbarkeit verpflichtet sind. Wir haben unsere Literatur- und Quellengrundlagen offengelegt. Wer den Begriff des "Völkermordes" in diesem Zusammenhang ablehnt, ist zunächst einmal verpflichtet, sich zu diesen Argumenten und Belegen zu verhalten. Uns ist keine einzige wissenschaftliche Arbeit der letzten Jahre bekannt, die dies zu leisten vermag; alle Studien, die den Begriff des Völkermordes explizit zurückweisen, setzen sich nicht einmal in Ansätzen mit dem Bestand der wissenschaftlichen Literatur und der Fülle an verfügbaren Quellen auseinander.


Alle Völker im Osmanischen Reich - Armenier, Türken und Kurden - erfuhren im Ersten Weltkrieg großes Leid. Selektiv das Leid der Armenier herauszugreifen, sei daher eine Verzerrung.

Dass auch Türken und Kurden im Ersten Weltkrieg Gewalterfahrungen ausgesetzt waren, dass die osmanische Gesellschaft auch vor dem Ersten Weltkrieg (wie auch viele andere europäische Gesellschaften) Gewalt in einem heute nicht mehr ohne Weiteres nachvollziehbaren Maße kannten, steht außer Frage. Wir bestreiten jedoch, dass sich all dieses Leid unter dem Stichwort "Gewalt" ohne Weiteres subsummieren lässt. Die Gewalterfahrungen etwa vieler Türken und Kurden in Ostanatolien waren kriegsbedingt, mithin - so schlimm das ist - Kriegsalltag. Die Gewalt an Armeniern hingegen war nicht Folge des Krieges, sondern Ausfluss staatlich initiierter Vernichtungspolitik. Das ist mithin eine gänzlich andere Erfahrung.


Nur ein zuständiges Gericht könne auf dem vorgesehenen Rechtsweg einen "Völkermord" konstatieren.

Das mag im juristischen Bereich so sein; auch hier wäre allerdings ein Ankläger in der Lage, den Vorwurf des Völkermordes anzubringen, spätestens seit der einschlägigen UN-Konvention von 19148, möglicherweise aber - betrachtet man Völkermord als ius cogens mit rückwirkender Geltung - auch schon für frühere Fälle. Für den geshcichtswissenschaftlichen Begriffsgebrauch gelten jedoch ohnehin andere Regeln. Es spricht nichts dagegen, die Legaldefinition von Völkermord aus der UN-Konvention von 1948 für die geschichtswissenschaftliche Begriffsbildung im Sinne einer Nominaldefinition heranzuziehen. Das ist sogar sehr sinnvoll, wenn dadurch einerseits Sprachbarrieren zwischen unterschiedlichen Wissenschaftssphären (hier: Geschichtswissenschaft und Rechtswissenschaft) vermieden und andererseits produktive Begriffe generiert werden. Beides seheh wir hier gegeben.


Es gebe kein einziges osmanisches Dokument, in dem eine klare Absicht der jungtürkischen Führung zur Vernichtung der Armenier im Osmanischen Reich erkennbar werde.

Ein solches Dokument fehlt auch im Kontext der Shoa - der Führerbefehl zur Vernichtung des europäischen Judentums wurde bis heute nicht gefunden. Dennoch gibt es keinen Zweifel daran, dass die Vernichtung der Juden als Juden staatlich intendiert war. Die jungtürkische Führung agierte durch Organe des osmanischen Staates, eine Intention zur Vernichtung von Armeniern in riesiger Zahl - eben weil sie Armenier waren - und der Rückgriff auf Maßnahmen, wie sie in der einschlägigen UN-Konvention aufgeführt werden, sind inzwischen durch viele Dokumente zweifelsfrei belegt. Dazu gehören Quellen aus dem Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes in Berlin, in denen deutsche Augenzeugen der deutschen Botschaft berichten, wie sich jungtürkische Akteure ihnen gegenüber eindeutig in diesem Sinne äußern, als auch in den letzten Jahren aus den osmanischen Archiven heraus erarbeitete Dokumente, die eine Vernichtungsabsicht sehr klar erkennen lassen.


Es gebe Wissenschaftler, vor allem Historiker und Juristen, die die Verwendung des Begriffes "Völkermord" eindeutig ablehnen. Zu ihnen gehören die US-Amerikaner Bernard Lewis, Stanford Shaw, Guenter Lewy, Justin McCarthy, Norman Itzkowitz, Brian Williams, David Fromkin, Avigdor Levy, Michael Gunter, Pierre Oberling, Roderic Davison, Michael Radu und Edward Erickson, die Briten Norman Stone und Andrew Mango, Franzosen wie Gilles Veinstein oder Italiener wie Stefano Trinchese und Augusta Sinagra.

Viele der genannten Wissenschatler haben zu den hier interessierenden Fragen keine eigenen Archivstudien vorgelegt. Sie haben sich vor allem geschichtspolitisch geäußert. Die konkreten Ereignisse von 1915 und 1916 scheinen unter den hier Genannten in letzter Zeit nur von Edward Erickson untersucht worden zu sein, der sich jedoch auf eine militärische Perspektive konzentriert (counter-insurgency), die lediglich aus diesem Fokus heraus verständlich wird. Bedenkt man, dass das Militär an der Front zur Kriegsführung eingesetzt wurde und eben nur sporadisch auch im Völkermord eingesetzt wurde, zeigen sich auch hier Argumentationslücken. Keiner der hier genannten Historiker und Juristen hat sich detailliert, empirisch und argumentativ mit den Ergebnissen der jüngeren Forschung auseinandergesetzt.

Umgekehrt aber ließe sich sagen: Selbst unter (v.a. jüngeren) türkischen Historikern ist es inzwischen selbstverständlich, von der Tatsache des Völkermordes auszugehen. Entsprechende Hinweise finden sich in den Literaturangaben zu dieser Ausstellung.


Die Türkei habe Armeniern das Angebot einer gemeinsamen, international besetzten Historikerkommission unterbreitet, Armenien habe dies aber abgelehnt.

Die Geschichte dieses Projektes ist schwierig zu rekonstruieren; beide Seiten erzählen hier unterschiedliche Geschichten. Im Grunde ist es aber auch nicht relevant. Während Regierungen sich nicht über Auftrag, Quellengrundlage und Fragestellung von beauftragten Kommissionen einigen können, sind Historiker/innen schon lange wesenltich weiter. So gab es über viele Jahre sogenannte WATS-Konferenzen (WATS: Workshop for Armenian/Turkish Scholarship), auf denen türkische, armenische und andere international arbeitende Historiker zusammenkamen. Der Begriff "Völkermord" wurde hier dahingehend diskutiert, ob er für den Austausch produktiv und hilfreich sei; der Tatbestand selbst wurde nicht mehr in Frage gestellt. Die internationale Forschung ist sich an diesem Punkt inzwischen einig.


Ein letzter Hinweis ist uns wichtig, um keinen falschen Eindruck zu erzeugen: Die oben angeführten Einwände werden in aller Regel von auswärtigen Vertretern der Republik Türkei vertreten. Sie entsprechen nicht den vielfältigen Wahrnehmungen dieses Themas in der Gesellschaft der Republik Türkei selbst; dort gibt es auch ganz andere Einschätzungen. Das belegen etwa die Auflagenzahlen von Fethiye Cetins "Meine Großmutter", die Kondolenzbezeigungen bei der Beerdigung von Hrant Dink und viele andere zivilgesellschaftliche Initiativen. Es wäre also falsch anzunehmen, diese Einwände stellten eine "türkische" Wahrnehmung dar; richtig ist derzeit nur, dass es der offiziellen staatlichen Position jedenfalls in der auswärtigen Politik und im Bildungssektor entspricht.