Kulturalisierungsfalle

„[…] Inzwischen ist Deutschland nämlich ein Einwanderungsland geworden, inzwischen leben Millionen Menschen hier - zu einem immer größeren Teil auch als deutsche Staatsbürger - deren historische und kulturelle Wurzeln in ganz anderen Ländern und Kulturen liegen. Wir sind uns einig darüber, dass Integration, also das Finden eines ‚Wir‘, das Gebot der Stunde ist.“ (aus: Rau, Johannes: Rede von Bundespräsident Johannes Rau zum Historikertag 2002. URL: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Johannes-Rau/Reden/2002/09/20020910_Rede2.html (Aufruf am 12.05.2015).)

Mit diesen Worten erkannte Johannes Rau auf dem Historikertag im Jahre 2002 die veränderten Gesellschaftsverhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland und ihre Konsequenzen für die Frage historischer Traditionen im Zuge von Integrationsprozessen an. Immer mehr Migrant/innen leben und arbeiten in Deutschland. Damit verändert sich auch die Schülerschaft in den deutschen Schulen: Jede/r Fünfte hat mittlerweile einen Migrationshintergrund – bei den Kindern unter 5 Jahren ist es sogar jeder Dritte. Natürlich muss der (Geschichts-)unterricht darauf reagieren, Schüler/innen müssen stärker denn je mit Fremdheitserfahrungen umgehen und dabei Toleranz und Empathie entwickeln. Interkulturelles historisches Lernen mag heute eine selbstverständlich anmutende Anforderung an den Geschichtsunterricht sein; doch wie sollte das konkret aussehen, welche Potentiale birgt es wirklich, und welche Herausforderungen muss man hier bewältigen?

„Eine Gemeinschaft, auch eine Gesellschaft - und mag sie in sich noch so differenziert sein - konstituiert sich durch gemeinsame Erzählungen, durch eine Geschichte. […] Wahrscheinlich werden sich die Hinzugekommenen auf ihre Weise die Geschichte zu eigen machen, und gemeinsam werden wir einst eine neue, gemeinsame Geschichte erzählen.“ (aus: Rau, Johannes: Rede von Bundespräsident Johannes Rau zum Historikertag 2002. URL: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Johannes-Rau/Reden/2002/09/20020910_Rede2.html (Aufruf am 12.05.2015).)

So setzte Johannes Rau seine Rede am Historikertag 2002 fort: Es ging um „eine“ Geschichte, um gemeinsame Erzählungen – nicht um ein ebenso denkbares Nebeneinander gleichberechtigter Erzählungen. So durchzieht Raus Rede eine Unterscheidung von „Wir“ und „die Anderen“. Es gibt jedoch nicht „eine“ deutsche Geschichte, die sich Migrant/innen „zu eigen“ machen könnten. Und es gab und gibt auch nicht einfach „die Anderen“, die von außen kommen und sich erst „unsere“ Erzählungen aneignen müssen. Menschen in ihrer historischen Identitätsbildung über ihre Herkunft zu fixieren, hat die Geschichtsdidaktikerin Bettina Alavi als „Kulturalisierungsfalle“ bezeichnet: Neben vielen anderen, ebenso wirkmächtigen Faktoren wie Familie, Religion, soziale Schicht und Milieu, Stadt oder Land und dergleichen mehr verengt wird in Raus Rede die Herkunft zum alleine entscheidenden identitätsprägenden Faktor erhoben.

Diese Kulturalisierungsfalle gibt es in vielen Varianten. Aussagen wie „Murat, pass auf, heute geht es um deine (= türkische, arabische, syrische, usw.) Geschichte“ sind gut gemeint und sollen die entsprechenden Schüler/innen motivieren, sich aktiv am Unterrichtsgeschehen zu beteiligen. Die Lehrkraft identifiziert die Schüler/innen mit dieser Ansprache jedoch über ihre (oft nur vermutete) ethnische Identität und vergisst dabei, dass diese Identitätszuweisung für die betroffenen Schüler/innen möglicherweise sehr problematisch ist. Gefährlich ist daran auch, dass die Schüler/innen als „die Anderen“ definiert und damit gewissermaßen aus der "normalen" Lerngruppe herausdefiniert werden. Hier können Vorurteile stigmatisierend wirken.

Dass diese Gefahr auch bei geschichtsdidaktisch engagierten Lehrer/innen droht, zeigt ein Plädoyer von Gisbert Gemein:

„Ich halte allerdings seine Behandlung [= die Behandlung des Völkermordes an den Armeniern] gerade in Klassen mit türkischen Kindern für ausgesprochen notwendig, gerade weil er für die türkischen Jugendlichen eine Zumutung ist, die sie aber aushalten müssen, wenn sie bei uns leben wollen. Wir müssen uns nur vorstellen, welche Auswirkungen es auf türkische männliche Jugendliche hat, wenn diese im Geschichtsunterricht deutscher Regelklassen alles über den Holocaust erfahren, über Vergleichbares in der türkischen Geschichte aber nichts“ (aus: Gemein, Gisbert: Kulturkonflikte - Kulturbegegnungen. Chancen und Grenzen für das interkulturelle Lernen im Geschichtsunterricht an Beispielen türkischer und muslimischer Geschichte. In: Geschichte für heute (2013), H. 2, S. 46–54.).

Gemein identifiziert die relevanten Schüler/innen hier nicht nur über ihre „türkische“ Herkunft, womit die Lerngruppe in zwei (Herkunfts-)Gruppen geteilt wird, sondern auch über ihr Geschlecht. Das alles bedeutet nicht, dass der Migrationshintergrund der Schüler/innen ignoriert werden soll. Wichtig ist, dass sie sich im Prozess des historischen Lernens selbstbestimmt ein individuelles Geschichtsbild aufbauen können, in dem ihre Herkunft eine Rolle spielen kann – aber nicht muss.

Daher müssen einige Aspekte interkulturellen historischen Lernens festgehalten werden:

  1. Sensibler interkultureller Geschichtsunterricht bezieht sich nicht nur auf „die Anderen“, die Schüler/innen mit Migrationshintergrund, sondern auf die gesamte Schülerschaft. Sonst würde das Ziel der Integration nicht erfüllt werden. Die „Ausländerpädagogik“ der 1960er Jahre hat sich überlebt. Sie scheiterte schon daran, dass jede/r Schüler/in mit Migrationshintergrund ein Individuum ist, in dem sich unterschiedlichste Einflussfaktoren (Geschlecht, Alter, sozialer Hintergrund usw.) in je spezifischer Weise bündeln – was auch für die Mitschüler/innen ohne Migrationshintergrund gilt.
  2. Im historischen Lernen beschäftigt sich das Individuum (nicht seine ethnische Gruppe) mit der Geschichte, und dies hat eine je individuelle Wirkung auf die Schüler/innen. Die mit zunehmender Aufmerksamkeit thematisierte Heterogenität der Schülerschaft lässt sich nicht alleine auf den Migrationshintergrund reduzieren. Schüler/innen (mit und ohne Migrationshintergrund) sollen daher als Individuum mit ihren je individuellen Stärken und Schwächen betrachtet werden.
  3. Seit den 1980er Jahren machen Geschichtsdidaktiker/innen darauf aufmerksam, dass die Lehrpläne die deutsche Geschichte als Fortschrittsgeschichte darstellen. Dieses Konzept sei veraltet und stamme aus einer Zeit, in der die Nationalstaatsgründung des Deutschen Reiches durch den Geschichtsunterricht unterstützt werden sollte. Die Folge sei ein Überlegenheitsgefühl der Deutschen gegenüber anderen Kulturen und Nationen. Lehrplanautoren haben darauf reagiert; noch immer überwiegt jedoch ein Fokus auf der deutschen Geschichte. In den Geschichtsunterricht sollen jedoch zunehmend interkulturelle Problemstellungen aufgenommen werden, die sich etwa um das Zusammenleben verschiedener Kulturen, Migrationssituationen (Flucht, Vertreibung, Zu- und Auswanderung) und das Verhältnis zwischen Mehrheit und Minderheit drehen. Es reicht hierfür nicht aus, zum Beispiel „fremde“ Geschichten zu behandeln. Ohnehin kann und soll nicht jede Nation oder jede Kultur behandelt werden. Das würde auf eine nicht zu rechtfertigende Container-Konzeption von abgrenzbaren Kulturen hinauslaufen. Vielmehr sollten Themen des Lehrplans oder selbstgewählte Themen in interkultureller Perspektive neu konzeptualisiert und für interkulturelles historisches Lernen aufgearbeitet werden.
  4. Bei der interkulturellen Perspektivierung von Themen für den Geschichtsunterricht ist ein sensibler Umgang mit den Schüler/innen notwendig. Dies ist besonders wichtig, wenn die Themen Konflikte in den Herkunftsländern der Schüler/innen behandeln. Das Thema „Die Osmanisch-deutsche Verflechtungen und die Armeniergräuel im Ersten Weltkrieg“ stellt ein solches Thema dar. Der Lehrkraft muss bewusst sein, dass sich die einzelnen Schüler/innen unterschiedlich stark mit dem Thema identifizieren. Sie weiß oft nicht, wie die Eltern der Kinder zu diesem Thema stehen und ob das Thema nicht auch innerfamiliäre Konflikte generieren kann, die dem Kind das historische Lernen unmöglich machen. Denkbar ist auch, dass sich Schüler/innen dem Thema verweigern und der Lehrkraft unter Umständen vorwerfen, ein „Nazi“ zu sein, der den Holocaust verharmlose. Bei wieder anderen Schüler/innen kann es zu Schadenfreude nach dem Motto „Ihr wart auch nicht besser“ kommen. Lehrer/innen kann mithin nicht vorgeschrieben werden, sich an diese Themen heranzutrauen. Dennoch ist es wünschenswert, denn die erlernten interkulturellen Kompetenzen werden den Schüler/innen helfen, sich in der Gegenwart und Zukunft zurechtzufinden.

Quellen und Literatur zum Weiterlesen:

Alavi, Bettina: Geschichtsunterricht in der multiethnischen Gesellschaft: eine fachdidaktische Studie zur Modifizierung des Geschichtsunterrichts aufgrund migrationsbedingter Veränderungen. Frankfurt 1998 (Interdisziplinäre Studien zum Verhältnis von Migration, Ethnizität und gesellschaftlicher Multikulturalität, Bd. 9).

Alavi, Bettina: Von der Theorie zur Praxis interkulturellen Lernens. Problembereiche bei der Planung und Durchführung von Unterricht. In: Körber, Andreas (Hg.): Interkulturelles Geschichtslernen. Geschichtsunterricht unter den Bedingungen von Einwanderung und Globalisierung. Konzeptionelle Überlegungen und praktische Ansätze. Münster 2001, S. 97-104.

Bade, Klaus J.: Migration und Integration als Herausforderung an Gesellschafts- und Bildungspolitik. In: Körber, Andreas (Hg.): Interkulturelles Geschichtslernen. Geschichtsunterricht unter den Bedingungen von Einwanderung und Globalisierung. Konzeptionelle Überlegungen und praktische Ansätze. Münster 2001, S. 39-48.

Borries, Bodo von: Fallstricke interkulturellen Geschichtsunterrichts: Opas Schulbuchunterricht ist tot. In: Georgi, Viola B.; Ohliger, Rainer (Hg.): Crossover Geschichte. Historisches Bewusstsein Jugendlicher in der Einwanderungsgesellschaft. Bonn 2009 (bpb, Bd. 1018), S. 25-45.

Borries, Bodo von: Interkulturalität beim historisch-politischem Lernen – Ja sicher, aber wie? In: Körber, Andreas (Hg.): Interkulturelles Geschichtslernen. Geschichtsunterricht unter den Bedingungen von Einwanderung und Globalisierung. Konzeptionelle Überlegungen und praktische Ansätze. Münster 2001, S. 73-96.

Gautschi, Peter: Der Beitrag des Geschichtsunterrichts zur Entwicklung von Einstellungen. In: Bauer, Jan-Patrick (Hg.): Geschichtslernen – Innovationen und Reflexionen: Geschichtsdidaktik im Spannungsfeld von theoretischen Zuspitzungen, empirischen Erkundungen, normativen Überlegungen und pragmatischen Wendungen; Festschrift für Bodo von Borries. Kenzingen 2008 (Reihe Geschichtswissenschaft, Bd. 54), S. 289-306.

Meyer-Hamme, Johannes: Historische Identitäten und Geschichtsunterricht: Fallstudien zum Verhältnis kultureller Zugehörigkeit, schulischen Anforderungen und individueller Verarbeitung. Hamburg 2009 (Schriften zur Geschichtsdidaktik, Bd. 26).

Sökefeld, Martin: Jenseits des Paradigmas interkultureller Differenz. In: Alavi Bettina (Hg.): Migration und Fremdverstehen: Geschichtsunterricht und Geschichtskultur in der multiethnischen Gesellschaft. Idstein 2004 (Schriften zur Geschichtsdidaktik, Bd. 16), S. 47-56.