Nachgeschichte II: Nachleben in der deutschen Öffentlichkeit

Die Armeniergräuel sind in der Öffentlichkeit heute weitgehend unbekannt. In der Weimarer Republik war dies anders: Ganz unterschiedliche Milieus und Akteure interessierten sich über 1918/19 hinaus für dieses Thema.

Das Beispiel Armin T. Wegner: Von privaten Erlebnissen...

Armenische Mutter auf der Flucht. Auszug aus dem Diavortrag von Armin T. Wegner: „Unterdessen verfolgt die einsame Mutter weiter ihre traurige Straße.“ © Wallstein Verlag.
Armenische Mutter auf der Flucht. Auszug aus dem Diavortrag von Armin T. Wegner: „Unterdessen verfolgt die einsame Mutter weiter ihre traurige Straße.“ © Wallstein Verlag.

Zu den Augenzeugen der Armeniergräuel, die in der Weimarer Republik versuchten, das Thema einer breitere Öffentlichkeit zuzuführen, zählte der Schriftsteller Armin T. Wegner. Er hatte den Ersten Weltkrieg zunächst als Kriegsberichterstatter an der Ost- und Balkanfront miterlebt. Im Herbst 1915 ließ er sich einer Militärmission unter General Colmar von der Goltz als Krankenpfleger zuteilen. In dessen Gefolge machte er sich am 15. November 1915 von Konstantinopel aus auf den Weg nach Bagdad. Im Frühsommer 1916 traf Wegner auf dem Rückweg von Bagdad nach Aleppo auf armenische Flüchtlingslager und hielt seine Eindrücke in einem Tagebuch fest. In Aleppo begegnete er evangelischen Schwestern eines Hilfsbundes, deren Einsatz für armenische Waisenkinder ihn dazu inspirierte, schriftliche Interviews mit den Deportierten zu führen. Er notierte stichpunktartig die Lebenswege zahlreicher Armenier, mit denen er in Aleppo zusammentraf, und fertigte Fotografien vom Lageralltag an. Aus dem Osmanischen Reich zurückgekehrt, verfolgte er zunächst die Absicht, seine Aufnahmen und Erinnerungen über die Militärmission unter von der Goltz zu veröffentlichen. Dazu bat er Kriegskameraden, Orientspezialisten und Bekannte um zusätzliches Fotomaterial.

Als er im Februar 1917 in Breslau mit der Unterstützung der Deutsch-Türkischen Gesellschaft einen Vortrag zum Andenken an von der Goltz hielt, zeigte er auch einige Fotografien, die die Armeniergräuel dokumentierten; er verschwieg jedoch alles, was die türkische und deutsche Seite belasten konnte. Eine Frau, die schwer bepackt und ein Kind auf dem Rücken tragend flüchtete – laut Wegners privaten Aufzeichnungen eine Armenierin – charakterisierte er in seinem Vortrag lediglich als Frau, die „vielleicht vor dem Kriege flüchtet.“ Sowohl die türkischen Behörden als auch deutsche Militärs rückte Wegner in ein sehr gutes Licht: Sie seien bemüht gewesen, das Leid der Flüchtlinge zu lindern. Erst später, 1919, trat Wegner erneut mit einem Lichtbildvortrag als Augenzeuge des Völkermords auf und bezog nun erstmals deutlich Stellung.

 … zur öffentlichkeitswirksamen Darstellung

Türkischer Gendarm: „Hinter ihr aber ist einer, ständig bedacht, sie nicht zur Ruhe kommen zu lassen, der Zaptier, der türkische Gendarm, der im Auftrag seiner Regierung willig die grausamsten Taten vollführt und sie atemlos weiterhetzt .“ © Wallstein Verlag.
Türkischer Gendarm: „Hinter ihr aber ist einer, ständig bedacht, sie nicht zur Ruhe kommen zu lassen, der Zaptier, der türkische Gendarm, der im Auftrag seiner Regierung willig die grausamsten Taten vollführt und sie atemlos weiterhetzt .“ © Wallstein Verlag.

Bis zum März 1919 hatte Wegner eine Gesamtzahl von 8000 Bildern gesammelt. Wahrscheinlich stammten lediglich 100 dieser Bilder von ihm persönlich; welche jedoch genau, konnte bis heute nicht abschließend geklärt werden. Hatte Wegner in seinem Vortrag vom Februar 1917 in Breslau die türkische Seite noch gezielt zu entlasten versucht, so ließ er 1919 bei einem neuerlichen Lichtbildvortrag in der Berliner „Urania“ keinen Zweifel daran, dass die Schuld an den Gräueln auf türkischer Seite zu suchen sei. Die deutschen Militärs vor Ort seien ahnungslos zu Mitverantwortlichen geworden. Türkische Diplomaten, die dem Vortrag beiwohnten, kritisierten, dass die Fotografien etwas anderes zeigten, als Wegner behauptete. Unter den Anwesenden brach ein Tumult aus. Angeblich kam es zu Schlägereien; ein Revolver wurde gezückt.

Seit diesen Tumulten galt Wegner als einer der wichtigsten Augenzeugen des armenischen Leidens. Beim Prozess gegen den Armenier Soghomon Tehlirian wurde Wegner als Zeuge vernommen. Im Nachgang der Verhandlung bemühte sich Wegner um die Veröffentlichung des Prozessprotokolls. In den folgenden Jahren verarbeitete er die Armeniergräuel auch literarisch in Erzählungen wie „Der Sturm auf das Frauenbad“ und „Der Bankier“. Aufsehenerregend war sein „Offener Brief an den Präsidenten der Vereinigten Staaten von Nordamerika, Woodrow Wilson, über die Austreibung des armenischen Volkes in die mesopotamische Wüste“, in dem er Wilson – sehr zum Ärger des Auswärtigen Amtes – darum bat, in Versailles die armenische Frage nicht erneut zu marginalisieren und das erlittene Unrecht wiedergutzumachen.

Problematisch bleibt, dass Wegner zwischen eigenen Erfahrungen und Hörensagen, zwischen selbst angefertigten und lediglich gesammelten Fotos zugunsten einer wirksameren literarischen Inszenierung nicht unterschied.

Die öffentliche Wahrnehmung der Armeniergräuel in den 1920er und 30er Jahren

Berichterstattung über Tumulte nach einem Lichtbildvortrag von Armin T. Wegner über die „Austreibung des armenischen Volkes“, Vossische Zeitung, 20.03.1919. Digitalisat unter http://zefys.staatsbibliothek-berlin.de/list/title/zdb/27112366/.
Berichterstattung über Tumulte nach einem Lichtbildvortrag von Armin T. Wegner über die „Austreibung des armenischen Volkes“, Vossische Zeitung, 20.03.1919. Digitalisat unter http://zefys.staatsbibliothek-berlin.de/list/title/zdb/27112366/.

Im Laufe der 1920er Jahre wandelte sich die Rezeption der Armeniergräuel in der Weimarer Republik erheblich. In den ersten Jahren nach Kriegsende war das Thema medial überaus präsent. Auch die Frage nach einer deutschen Mitverantwortung für die Gräueltaten wurde mancherorts diskutiert; so erhob der radikaldemokratische Publizist Heinrich Vierbücher, der den Ersten Weltkrieg im Osmanischen Reich erlebt hatte, 1930 heftige Vorwürfe gegen die Reichsregierung:

"Man sträubt sich mit allen Kräften dagegen, die Sünden des alten Systems zuzugeben, als wenn die Schande der Gestrigen eine Schmach für die Heutigen sein könnte (…)."

Auf jüdischer Seite wies man seit 1933 besorgt auf Parallelen zwischen den Armeniergräuel im Osmanischen Reich und der zunehmenden Bedrängnis durch den NS-Staat hin.

Mit der Gründung der Republik Türkei unter Mustafa Kemal ("Atatürk") hatte sich jedoch die Wahrnehmung der Ereignisse stark verändert. Dem jungen Staat schlug aus Deutschland viel Sympathie entgegen. Insbesondere die erstarkende Rechte fühlte sich der Türkei verbunden: In ihrer Wahrnehmung waren beide Staaten als Kriegsverlierer von den Siegermächten ungerecht behandelt und dem „Friedensdiktat“ der Siegermächte unterworfen worden. Allmählich verschwand nicht nur die Frage nach einer deutschen Mitschuld weitgehend aus dem öffentlichen Diskurs – die Deportationen wurden nun, der deutschen Kriegspressezensur aus dem Ersten Weltkrieg folgend, zunehmend als notwendige Maßnahme der jungtürkischen Regierung zur Etablierung eines starken Nationalstaates bewertet. Die Armeniergräuel blieben Bestandteil des Allgemeinwissens, sie wurden jedoch anders kontextualisiert und umgedeutet. 1924 schrieb der Völkische Kurier – ein wichtiges Organ der nationalsozialistischen Presse zu dieser Zeit – dass das, was mit den Armeniern im Osmanischen Reich geschehen sei, durchaus auch den Juden im künftigen Deutschen Reich passieren könne. Die Herstellung einer „rassischen“ Einheitlichkeit wurde als ausschlaggebendes Element in der Entwicklung hin zu einem starken Staat betrachtet.


Autorin: Aline Breuer


Literatur:

Anderson, Margaret Lavinia: Helden in Zeiten eines Völkermords? Armin T. Wegner, Ernst Jäckh, Henry Morgenthau. In: Hosfeld, Rolf (Hg.): Johannes Lepsius. Eine deutsche Ausnahme. Der Völkermord an den Armeniern, Humanitarismus und Menschenrechte. Göttingen 2013. S, 126-159.

Gruner, Wolf: „Armenier-Greuel“. Was wussten jüdische und nichtjüdische Deutsche im NS-Staat über den Völkermord von 1915/16? In: Steinbacher, Sybille (Hg.): Holocaust und Völkermord. Die Reichweite des Vergleichs. Frankfurt a. M. 2012. S. 31-54.

Ihrig, Stefan: Atatürk in the Nazi Imagination. Cambridge, London 2014.

Schaller, Dominik J.: Die Rezeption des Völkermordes an den Armeniern in Deutschland, 1915-1945. In: Hans-Lukas Kieser / Dominik J. Schaller (Hg.): Der Völkermord an den Armeniern und die Shoah. Zürich 2014.

Tamcke, Martin: Armin T. Wegners erste Zeugnisse zum Völkermord an den Armeniern in seinem Vortrag „Mit dem Stabe des Feldmarschalls von der Goltz in Mesopotamien“. In: Tamcke, Martin (Hg.): Koexistenz und Konfrontation. Beiträge zur jüngeren Geschichte und Gegenwartslage der orientalischen Christen. Münster 2003.

Tamcke, Martin: Armin T. Wegner und die Armenier. Anspruch und Wirklichkeit eines Augenzeugen. Hamburg 1996.

Tamcke, Martin: Die Kamera als Zeuge. Armin T. Wegners Fotografien vom Völkermord 1915/16 in Armenien. In: Paul, Gerhard (Hg.): Das Jahrhundert der Bilder. 1900 bis 1949. Göttingen 2009. S. 172-179.


Quellen:

Wegner, Armin T.: Die Austreibung des armenischen Volkes in die Wüste. Hrsg. v. Andreas Meier. Göttingen 2011.