Historischer Überblick

Schon im späten 19. Jahrhundert hatten Armenier im Osmanischen Reich Gewalt erfahren müssen. Die Erfahrungen im Ersten Weltkrieg waren jedoch von grundsätzlich anderer Art. Zeitgenossen hatten dafür keinen eigenen Begriff; sie sprachen von „Armenier-Greueln“, um das Grauen auf den Begriff zu bringen.

Armenier im Osmanischen Reich

Verteilung der armenischen Bevölkerung in Türkisch-Armenien, Kurdistan und Transkaukasien; Karte aus Petermanns Geographischen Mitteilungen, 1896. URL: http://commons.wikimedia.org/wiki/File%3AArmenian_population_map_1896.jpg.
Verteilung der armenischen Bevölkerung in Türkisch-Armenien, Kurdistan und Transkaukasien; Karte aus Petermanns Geographischen Mitteilungen, 1896. URL: http://commons.wikimedia.org/wiki/File%3AArmenian_population_map_1896.jpg.

Lange galten die Armenier im Osmanischen Reich als „treue millet“ (=Glaubensgemeinschaft): Während es auf dem Balkan im 19. Jahrhundert zu nationalen Unabhängigkeitsbewegungen und gewaltsamem Widerstand kam, blieb es in Ostanatolien, wo Kurden, Armenier und Türken lebten, eher ruhig. Unruhe gab es allenfalls von Seiten kurdischer Stämme, die von der unzureichenden Herrschaftsdurchdringung in Ostanatolien profitierten. Als Armenier in Sason 1894 jedoch die Zahlung von Steuern an den osmanischen Staat und zugleich an Kurden in der Region verweigerten, wurde ihr Widerstand militärisch niedergerungen; in der Folge brachen Massaker aus. Europäische Zeitungen interpretierten dies als Wirken Sultan Abdülhamids. Armenische Aktivisten nutzten die europäische Aufmerksamkeit und provozierten teilweise bewusst Gewaltreaktionen des osmanischen Staates, um die Großmächte auf ihre Seite zu bringen. Im Verlauf der Massaker 1894-1896 wurden schließlich bis zu 300.000 Armenier getötet.

Das Osmanische Reich schlitterte in den folgenden Jahren in schwere Krisen: Neben dem schrittweisen Verlust der nordafrikanischen Herrschaftsgebiete waren es vor allem die von ungeahnter Brutalität gekennzeichneten Balkankriege 1912 und 1913, die zum Verlust fast des ganzen europäischen Staatsgebietes und zu gewaltigen muslimischen Flüchtlingsströmen nach Ostanatolien führten. Die europäischen Großmächte hatten die armenische Frage schon 1878 zum Gegenstand des Berliner Vertrages und damit zum Schlüssel für Einmischungen in innerosmanische Angelegenheiten gemacht. 1914 zwangen sie dem Osmanischen Reich einen Reformplan auf, der die sechs östlichen Verwaltungsbezirke in zwei Provinzen unter jeweils einem europäischen Generalinspektor mit proportionaler Vertretung der Armenier in der Exekutive vorsah. Die 1908 in einer Revolution an die Macht gekommene Gruppierung der Jungtürken sah jedoch nach dem Verlust der europäischen Kernländer gerade in Ostanatolien den Keim für die Wiedererstarkung eines reformierten und nun stärker türkischen Osmanischen Reiches.

Beginn der Armeniergräuel

Fotografie des österreichischen Naturforschers Viktor Pietschmann. Das Bild zeigt deportierte Armenier auf dem Weg zur Kemah-Schlucht, in der seit Juni 1915 schon Zehntausende Armenier getötet worden waren. URL: http://commons.wikimedia.org/wiki/File%3A Armenian_deportations_in_Erzurum_by_Victor_Pietschmann_02.jpg.
Fotografie des österreichischen Naturforschers Viktor Pietschmann. Das Bild zeigt deportierte Armenier auf dem Weg zur Kemah-Schlucht, in der seit Juni 1915 schon Zehntausende Armenier getötet worden waren. URL: http://commons.wikimedia.org/wiki/File%3A Armenian_deportations_in_Erzurum_by_Victor_Pietschmann_02.jpg.

Nach dem Kriegseintritt Ende 1914 erlebte das Osmanische Reich eine erste militärische Katastrophe: In der Schlacht von Sarıkamış im Kaukasus verlor die dritte osmanische Armee gegen russische Einheiten über die Hälfte ihrer Soldaten. Ab diesem Zeitpunkt rückten russische Einheiten, verstärkt durch russisch-armenische Bataillone, in Ostanatolien vor. Kurz darauf folgte die Schlacht bei Çanakkale (Gallipoli) in der Nähe der Hauptstadt, die das Osmanische Reich erst Anfang 1916 siegreich beenden konnte. Die jungtürkischen Eliten nahmen die Bedrohung der Hauptstadt in der Schlacht bei Gallipoli, das russische Vordringen in Ostanatolien und die sich verschärfende Flüchtlingsproblematik im Reich als existenzielle Bedrohung des Reiches wahr. Zugleich sahen sie im Kriegseintritt auf der Seite der Mittelmächte die Möglichkeit, die ausländischen Einflussmöglichkeiten einzuschränken.

In der "armenischen Frage" sahen die Jungtürken einen Schlüssel zur Lösung all dieser Fragen. Mit einer demographischen Veränderung Ostanatoliens konnten sie britischen und russische Einmischungen ihre demographische Grundlage entziehen (ohne Armenier kein Reformplan). Zugleich verstanden sie die Armenier in Ostanatolien zunehmend als potenziell rebellisches Element, das in unmittelbarer Frontnähe die militärische Schlagkraft der osmanischen Armeen deutlich schwächen konnte. All dies führte zu ersten Übergriffen: Schon kurz nach Kriegseintritt wurden armenische Männer in Arbeiterbataillonen zusammengefasst, viele von ihnen kurz darauf ermordet. Als sich im April Armenier in der frontnahen Stadt Van gegen Provokationen mit Waffen zur Wehr setzten, begannen die Jungtürken mit massenhaften Verschickungen von Armeniern aus Ostanatolien. Der Verhaftung von 235 Angehörigen der armenischen Elite in Istanbul am 24. und 25. April 1915 wird heute alljährlich gedacht.

Verlauf der Armeniergräuel

2005 entdeckte die Enkelin Talaat Paschas ein Notizbuch aus den Jahren 1916 und 1917, in dem Talaat Pascha demographische Meldungen aus den Provinzen zusammengefasst und Bevölkerungsverluste ethnisch differenziert erfasst hatte. Diese Karte gibt seine eigenen Zahlen wider.
2005 entdeckte die Enkelin Talaat Paschas ein Notizbuch aus den Jahren 1916 und 1917, in dem Talaat Pascha demographische Meldungen aus den Provinzen zusammengefasst und Bevölkerungsverluste ethnisch differenziert erfasst hatte. Diese Karte gibt seine eigenen Zahlen wider.

Link auf die Karte in größerer Auflösung (tiff)

Im gleichen Zeitraum begannen auch die Deportationen von Armeniern vor allem in Ostanatolien und Kilikien. Meist wurde die armenische Bevölkerung erst kurz vor der Deportation informiert. Männer wurden vor der Deportation von der Gruppe getrennt und oft abseits der Siedlung ermordet, Frauen und Kinder auf lange Deportationsmärsche in die syrische Wüste geschickt, auf denen sie Hunger und Krankheiten wie auch gewaltsamen Übergriffen marodierender Banden und organisierter Spezialeinheiten (den sogenannten Teşkilât-ı Mahsusa) zum Opfer fielen. Mit den Deportationen gingen massive Eigentumsverschiebungen einher; die jungtürkischen Verantwortungsträger waren bemüht, armenisches Eigentum dem Staat oder dem jungtürkischen Komitee zukommen zu lassen und armenische Industrie und Handel zu nationalisieren. Daneben kam es aber auch zu Plünderungen.

Das Unbehagen an diesen Maßnahmen, das auch in der türkischen und kurdischen Gesellschaft empfunden wurde, führte mancherorts auch zu Rettungsaktionen. Andernorts eigneten sich Würdenträger vor Ort Flüchtlinge, meist Kinder und junge Frauen, als Arbeitskräfte an. Manche armenische Kinder überlebten durch Aufnahme in ein Waisenhaus, andere konvertierten zum Islam, um der Verfolgung zu entgehen, und wieder andere Armenier flohen, vor allem in den russischen Kaukasus. Armenische Selbsthilfenetzwerke, unterstützt von ausländischen Geldgebern, bemühten sich, das Leid der Deportierten in den Konzentrationslagern in der syrischen Wüste zu lindern. Nur an wenigen Orten organisierten sich Armenier zu bewaffnetem Widerstand.

Der Vernichtungsprozess war vermutlich das Ergebnis einer kumulativen Radikalisierung, die im Frühjahr 1915 zur Entscheidung des jungtürkischen Regimes über die Vernichtung der Armenier führte. In einer zweiten Welle wurden die in die syrische Wüste deportierten Armenier im Sommer 1916 in großer Zahl ermordet. Am Ende des Ersten Weltkrieges hatte über eine Million Armenier ihr Leben verloren. Großwesir Talaat Pascha selbst ging 1917 von über 1.150.000 getöteten und gestorbenen Armeniern aus.


Autor: Andreas Frings


Materialien

Quelle 1

Der Kaiser bei unseren türkischen Verbündeten (1917)

Film im Filmportal und im European Film Gateway bereitgestellt
34:04 min Bild- und Filmamt (BUFA) (Berlin)

INHALT: Aufnahmen zum Besuch Kaiser Wilhelms II. in Konstantinopel 1917

URL: http://www.filmportal.de/video/der-kaiser-bei-unseren-tuerkischen-verbuendeten.