Geschichtskulturelle Verortungen

Vielleicht muss jetzt ein Deutschtürke kommen, der in Deutschland gelernt hat, wie man mit dunkler Geschichte umgeht, um zu helfen, das türkische und armenische Trauma zu überwinden. (Fatih Akin, in: Wie im falschen Film. SZ-Magazin No. 40, 2. Oktober 2014, S. 32-37, hier S. 34.)

Es ist keine selbstverständliche Entscheidung, eine Ausstellung wie diese in Deutschland zu entwickeln. Man kann die deutsch-osmanische Verflechtung so, wie wir es getan haben, als Ausgangspunkt nehmen, um diese Geschichte auch als Mensch ohne familiäre Bindungen an das untergegangene Osmanische Reich dennoch als Teil einer "eigenen" Geschichte, etwa einer eigenen deutschen Geschichte, zu entdecken. Aber auch diese "eigene" Geschichte ist ja nicht einfach gegeben, sondern mindestens einer Begründung bedürftig. Und es gibt starke Bedenken, das zu tun: Die Vertreibung und Vernichtung der Armenier war weder von deutscher Seite aus initiiert, wie dies manche Historiker in der Vergangenheit vermutet haben, noch gibt es eine direkte kausale Verbindung zwischen der Vernichtung der Armenier und der Shoa, wie dies andere Historiker posutliert haben. Man könnte auch - wie etwa Hrant Dink - argumentieren, dass die eigentliche Aufarbeitung dieser Geschichte und das Projekt einer entsprechenden Versöhnung nur von Türken und Armeniern gelsietet werden könne; unsere Ausstellung wäre dann fast schon ein Störkörper.

Einige Aspekte sprechen jedoch dafür, dieses Projekt auch hier anzupacken: so etwa die schon angesprochene deutschen Verflechtungen in diese Geschichte. Es gibt aber auch Schriftsteller und Kunstschaffende in Deutschland, die aus der Türkei stammen oder familiäre Beziehungen in die Türkei haben - und die davon ausgehen, dass es auch der in Deutschland in den letzten Jahrzehnten entwickelte Standard im Umgang mit auch dunklen Flecken der Geschichte sei, der auch für die Rekonstruktion der osmanisch-armenischen Geschichte fruchtbar gemacht werden könne. Diese Menschen wollen wir hier zu Wort kommen lassen.


Doğan Akhanlı

Doğan Akhanlı ist ein aus der Türkei stammender Schriftsteller, der seit den 1990er Jahren in Köln lebt. In den 1980er Jahren hatte er als politischer Häftling in einem türkischen Gefängnis gesessen. Er ist PEN-Mitglied. Ein weiterer Prozess gegen ihn wegen der behaupteten Teilnahme an einem Raubüberfall 1989 wurde 2011 aus Mangel an Beweisen eingestellt; vorgelegte Beweise waren als unter Druck erzwungen abgewiesen worden. In seinem Roman "Kıyamet Günü Yargıçları" (Die Richter des jüngsten Gerichts) thematisiert Akhanlı den Völkermord an den Armeniern. In Deutschland engagiert sich Akhanlı in der historisch-politischen Bildungsarbeit mit einem Schwerpunkt auf der Aufarbeitung genozidaler Gewalterfahrungen.

Wie sind Sie mit dem Thema des Völkermordes an den Armeniern in Berührung gekommen, und welche Bedeutung hat das Thema für Sie persönlich?

Das hatte mit meiner Biografie, meiner Gewalterfahrung zu tun. Dass ich verfolgt und gefoltert wurde, war vermutlich der Grund dafür, dass ich mich mit der historischen Gewalt meines Herkunftslandes beschäftigt habe. Die Frage war: Wie kann ich mit meiner eigenen Gewalterfahrung umgehen? Vielleicht finde ich auch deshalb die biografische Arbeit mit Bezug zur großen Gewalt interessant. Der Schutzraum Deutschland hat mir ermöglicht, über meine Vergangenheit, meine Gewalterfahrung nachdenken zu können. Wenn ich in der Türkei geblieben wäre, hätte ich keine Ruhe gehabt, über mich und über meine Vergangenheit, über die Bezüge zwischen meiner und anderen Gewaltgeschichten nachzudenken, sie zu bearbeiten. Es war eine wichtige Entdeckung für mich, dass ich nicht das einzige Opfer bin. Wir Linken sind nicht das einzige Opfer der Gewaltgeschichte. Ich habe hier andere Opfergruppen kennen gelernt: die Aleviten mit ihrer Geschichte oder die Kurden. Über die Armenier hatte ich als Kind gehört, dass sie massakriert und vertrieben worden waren, das war es. Das war für mich ein lokales Massaker. Später habe ich hier in Deutschland durch die Genozidforschung, auch durch Zeitzeugenberichte, erfahren, dass es an unterschiedlichen Orten ähnliche Erzählungen gab, und das zeigt, dass es eine zentrale Planung gegeben hatte. Das war für mich eine Schlüsselerkenntnis: Der Staat hat überall gleiche Massaker verübt. Man nennt das nach der Lemkin-Definition Genozid.

Und da war die Frage: Was hat das mit mir zu tun, was hat meine Gewalterfahrung mit der Gewalterfahrung der Armenier Anfang des 20. Jahrhunderts zu tun? Ich habe als Literat begonnen, über die Gewalterfahrung meiner Generation zu schreiben. Dann bin ich einhundert Jahre zurück gegangen und habe begonnen, das Buch „Die Richter des Jüngsten Gerichts“ zu schreiben. Ich hatte gespürt, dass es eine Verbindung zwischen meiner Gewalterfahrung und der Gewalterfahrung der Armenier, aber auch Unterschiede gibt. Anders als ich haben die Armenier eine absolute, totale, ultimative Willkür der Macht erlebt.

Wieso lohnt es, heute in Deutschland der Geschichte des Völkermordes an den Armeniern nachzuspüren?

Die Türkei und Deutschland gehen mit ihrer Geschichte anders um. Einmal abgesehen von der gesellschaftlichen Anerkennung des Holocausts in Deutschland und der Leugnung des Genozides an den Armeniern in der Türkei, redet man über die Opfer und Überlebenden von Völkermord respektvoller. Die Gesellschaft hier ist sensibler gegenüber Minderheiten und Einwanderer. Auf der anderen Seite gibt es wenig Platz für die anderen Gewaltgeschichten, die Einwanderer mitgebracht haben.

Welche Aspekte gilt es aus Ihrer Sicht besonders herauszuarbeiten?

In den zwei Weltkriegen gab es zwei Genozide: den Genozid an den Armeniern und den Holocaust. Beide Genozide hatten mit den beiden Länder zu tun. Im Ersten Weltkrieg war Deutschland ein Verbündeter des Osmanischen Reiches. Die Deutschen waren Mittäter, Zuschauer oder Zeugen des Völkermordes. Zahlreiche deutsche Offiziere und Diplomaten berichteten als Augenzeugen über die Massaker im Osmanischen Reich. Viele von ihnen leisteten Widerstand gegen die Vernichtung der Armenier. Die Protagonisten tauchten später im Zusammenhang mit der Vernichtung der europäischen Juden wieder auf: Am 4. Januar 1933 führten Adolf Hitler und Franz von Papen Gespräche über eine gemeinsame Regierungsbildung in einer Kölner Villa (Stadtwaldgürtel 35). Franz von Papen war im Ersten Weltkrieg von 1915 bis 1918 Stabschef der 4. Türkischen Armee in Palästina und ab April 1939 Botschafter in Ankara gewesen. Die türkischen Streitkräfte standen im Ersten Weltkrieg weitgehend unter deutschem Oberbefehl, zum Beispiel unter General Otto Liman von Sanders, der bei dem „Prozess Talaat Pascha“ als Sachverständiger auftrat, oder unter Fritz Bronsart von Schellendorf, der nach dem Ende des Ersten Weltkriegs seine Einschätzung jenes Vorgangs übermittelte, dessen Zeuge er geworden war: „Der Armenier ist wie der Jude, außerhalb seiner Heimat ein Parasit, der die Gesundheit des anderen Landes, in dem er sich niedergelassen hat, aufsaugt. Daher kommt auch der Hass, der sich in mittelalterlicher Weise gegen sie als unerwünschtes Volk entladen hatte und zu ihrer Ermordung führte.“

Was müsste man aus Ihrer Sicht bei einem angemessenen und fairen Umgang mit dem Thema berücksichtigen?

Wie ich oben geschildert habe, würde ich sagen, dass der Völkermord an den Armenier kein fremdes Thema, sondern ein Teil der deutschen Geschichte ist. Man sollte überprüfen, welche Verbindungen und Unterschiede es zwischen den Völkermorden gab. Ich finde es notwendig, die deutsche Aufarbeitung des Völkermordes an den Armeniern zu vertiefen und die genozidalen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts zu einem Bestandteil der Holocaust Education zu machen. Nach meiner Ansicht ist die Beschäftigung mit dem Völkermord an den Armeniern keine Relativierung der Shoa, sondern eine Erweiterung der deutschen Aufarbeitung. Wir sollten durch die deutsche Aufarbeitung nicht mehr die nationale deutsche Identität zu stärken suchen. Um die Zukunft zu gestalten, brauchen wir einen transnationalen Gedächtnisraum.


Fatih Akın

Fatih Akın gehört zu den wichtigsten türkischstämmigen Kukturschaffenden der Bundesrepublik Deutschland. Dem Völkermord an den Armeniern wandte er sich erst in seinem Film "The Cut" zu, den er als dritten Teil seiner Trilogie "Liebe, Tod und Teufel" konzipierte. Dieser Film wurde mit Erfolg auch in der Türkei gezeigt, obgleich er von türkischen Rechtsextremen hierfür Todesdrohungen erhielt.
Wir möchten hier Zitate aus Interviews mit Fatih Akın anführen.

Salzburger Nachrichten: Weil es immer noch kontroversiell ist, über den Völkermord an den Armeniern zu sprechen?

Fatih Akın: Ja, aber die Dinge ändern sich. Nachdem der armenische Journalist Hrant Dink 2007 in Istanbul erschossen worden war, hat sich eine starke Bürgerbewegung formiert. 100.000 Menschen gingen damals auf die Straße, und sagten: "Wir alle sind Armenier." Darunter waren viele Türken, die sich solidarisch erklärten. Inzwischen sind Bücher erschienen, Theaterautoren und Künstler haben sich mit dem Genozid befasst und nun gibt es auch diesen Film. Es ist nicht einfach, aber ich habe eine zweifache Verantwortung, weil ich ja nicht nur Türke bin, sondern auch Deutscher. Beide Länder waren involviert in den armenischen Genozid und beide erkennen ihn nicht an.

(URL: http://www.salzburg.com/nachrichten/freizeit/kino/sn/artikel/the-cut-ein-western-sucht-versoehnung-133832/)


Fatih Akın: Vielleicht muss jetzt ein Deutschtürke kommen, der in Deutschland gelernt hat, wie man mit dunkler Geschichte umgeht, um zu helfen, das türkische und armenische Trauma zu überwinden.

(In: Wie im falschen Film. SZ-Magazin No. 40, 2. Oktober 2014, S. 32-37, hier S. 34.)