Genizat Weisenau

Wandkalender: Rödelheim, gedruckt bei W. Heidenheim, 1831/32 (WE_Kalender NS 5)

 

Weisenau und mit ihm auch seine nach der Vertreibung der Juden aus Mainz im Jahr 1473 entstandene und bis ins 18. Jahrhundert stetig gewachsene jüdische Gemeinde war 1702 auf zwei Ortsherrschaften aufgeteilt worden. Nur einer der beiden Ortsherren, Domherr Anselm Franz Freiherr von Ingelheim, genehmigte seinen Juden in den damaligen 30er Jahren den Bau einer Synagoge, und so wurde das in der heutigen Wormser Straße versteckt hinter einem anderen Haus errichtete Gotteshaus zunächst nur von einem Teil der Weisenauer Juden genutzt. Bei der Belagerung von Mainz im Zuge des Ersten Koalitionskriegs geriet 1793 auch das vor den Mauern der Stadt gelegene Weisenau in die Schusslinie und wurde schwer beschädigt. Die Synagoge verlor nur ihr Dach, konnte mit einem Notdach weiter genutzt und 1818 schließlich renoviert und neu geweiht werden.

Im Jahr 1892 wurde das Gotteshaus, das nur noch einer durch die am Ende des 18. Jahrhunderts einsetzende Abwanderung inzwischen stark geschrumpften jüdischen Gemeinde diente, ein weiteres Mal renoviert, bevor es beim Novemberpogrom 1938 durch die Nationalsozialisten geplündert und geschändet wurde. Das Gebäude an sich überstand diese Nacht ebenso wie die Bombenangriffe in den Jahren 1944/45 und wurde als Lagerraum und Hühnerstall zweckentfremdet. Seine einstige Funktion als Synagoge geriet mit der Zeit in Vergessenheit.

"Wiederentdeckt" wurde die Synagoge bei den Recherchen im Zusammenhang mit einer großen Ausstellung "Juden in Mainz", die 1978 im Mainzer Rathaus stattfand. Erst ab 1983 begann man das architektonische Kleinod zu retten. Bereits damals wurde auch der Dachstuhl untersucht und begonnen, die Reste der wohl schon bei der Zerstörung des Synagogendaches 1793 stark verkleinerten Geniza zu bergen.

Wie lange die Geniza in Weisenau genutzt wurde, ist wegen der bislang nicht hinreichend erfolgten wissenschaftlichen Erschließung unbekannt. Einige der Gegenstände und Papiere aus den heute im Stadtarchiv aufbewahrten Kisten mit den Geniza-Überresten deuten darauf hin, dass die Benutzung noch bis ins 20. Jahrhundert andauerte. Auch ein mittlerweile restaurierter Wimpel und ein Beschneidungstuch, welches wie üblich reich bestickt oder bemalt wurde, weisen auf eine lang andauernde Nutzung dieses besonderen Raumes hin. Zwei Wimpel aus Weisenau befinden sich in der 2010 neu eröffneten Judaica-Ausstellung im Landesmuseum Mainz.

Im Frühjahr 2023 wurden bei einer Bestandsaufnahme im Stadtarchiv Mainz ca. 20 Kisten, Schachteln und Kartons mit weiterem, bislang nicht erschlossenem Material aus der Geniza "wiederentdeckt". Diese neu-alten Funde, darunter Wimpel, hebräische und jiddische Drucke sowie Handschriften, wurden im Juni 2023 leihweise vom Lehrstuhl Judaistik übernommen und aus eigenen Mitteln erschlossen. Scans der neuen Funde werden auf diesem Blog erstmals zugänglich gemacht. Die Signaturen dieser Funde werden mit "NS" für "Neue Serie" von den bereits erschlossenen abgesetzt und getrennt gezählt. Buchseiten von bereits identifizierten Werken oder Exemplaren sind den alten Signaturen zugeordnet.

 

Tora-Wimpel: erhalten ist das Datum des Geburtstags des Beschnittenen, der 19. Kislew, welcher auf einen Shabbat fiel, und das Sternzeichen Schütze (Qeshet), unter dem er geboren wurde (WE_Wimpel 4)