ZIS · Zentrum für Interkulturelle Studien, JGU Mainz
Donnerstag, 26. Juli 2018, bis Samstag, 28. Juli 2018
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Im Juli 2018 fand der internationale Workshop “Exploring Migrant Narratives“ des Zentrums für Interkulturelle Studien (ZIS) an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz statt. Der Workshop wurde von Prof. Dr. Anton Escher und Prof. Dr. Brigitte Bönisch-Brednich ins Leben gerufen, um klassische und innovative methodische Zugänge und unterschiedliche Methoden der Auswertung von „Migrant Narratives“ mit einem kleinen Kreis von Wissenschaftlern zu reflektieren. Der Austausch diente außerdem dazu, Fallstricke bei der Datenaufnahme, Interpretation und Wiedergabe von Erzählungen zu thematisieren.
Die Veranstaltung knüpfte an den Workshop des Vorjahres „Migrant Narratives – Moving Stories“ an, bei dem Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen aus Neuseeland, England, Schweden, Österreich und Deutschland zusammenkamen. Das Ziel der Workshop-Reihe ist es, gemeinsam einen Rahmen für ein Buchprojekt zu „Migrant Narratives“ zu entwickeln, in dem unterschiedliche Erzählungen und Analysewerkzeuge vorgestellt werden, die Studierenden und Wissenschaftlern Möglichkeiten zur Auswertung, Kategorisierung und Interpretation der eigenen Daten sowie Anregungen zur Selbstreflexion ihrer Rolle als Forscher/in geben.
Die Teilnehmer stellten ausgewählte Erzählungen von Migranten vor, die sie im Rahmen eigener empirischer Forschungsprojekte und lebensweltlicher Situationen erhoben haben. Dazu ordneten sie die präsentierten Erzählungen in den jeweiligen historischen und gesellschaftlichen Kontext ein, bevor einzelne Textstellen exemplarisch betrachtet wurden.
Erzählungen von und über den syrischen Taxifahrer Abu Khalil aus Maalula gab Prof. Dr. Anton Escher (Geographie, JGU Mainz) wieder, der mit ihm während zahlreicher Forschungsreisen durch Syrien gefahren ist. Wie viele andere aus dem Aramäerdorf Maalula war Abu Khalil aus ökonomischen Gründen gezwungen, in Damaskus, Beirut und Saudi Arabien zu arbeiten. Durch Besuche und Rücküberweisungen hielt er jedoch stets die Beziehung zu den verbliebenen Familienmitgliedern und Bewohnern im Heimatdorf aufrecht. Seine Erzählungen geben einen Einblick in transnationale Lebensführung und den an den jeweiligen Orten differenten sozialen Zwängen, Erwartungen und Bedürfnissen der Selbstverwirklichung.
Prof. Dr. Silke Meyer (Europäische Ethnologie, Universität Innsbruck) analysierte den Umgang der österreichischen Polizei mit dem Thema Diversität. Angesichts der Kontroverse, dass die moderne Polizei einerseits ein Spiegelbild der Gesellschaft sein sollte und andererseits Polizeikultur auf der Vorstellung von Einheit und Kameradschaft beruht, ist die Institution Polizei besonders gefordert, Unterschiede und Vielfalt zuzulassen und zu schätzen. Medienpräsente Polizisten mit Migrationshintergrund erzählen ihre Lebensgeschichte als erfolgreiche Assimilation und werden dadurch zu „Modelloffizieren“. Zudem verdeutlichen kritische Aussagen anderer, die ihr kulturelles Kapital nur bedingt einbringen können, dass „Diversity“ von der österreichischen Polizei noch nicht als transnationales Kapital wertgeschätzt wird.
Prof. Dr. Mita Banerjee (American Studies, JGU Mainz) und Dr. Ahmad Izzo (JGU Mainz) befassten sich aus unterschiedlichen Perspektiven mit Erzählungen von syrischen Vloggern. Prof. Dr. Mita Banerjee interpretierte den Videoblog GermanLifeStyle (GLS) als eine Form des „Life Writings“ an der Schnittstelle von Migration und der sogenannten "Flüchtlingskrise" in Deutschland. Der Video-Blog bietet syrischen Flüchtlingen eine Art Anleitung, wie man sich in Übereinstimmung mit deutschen kulturellen Traditionen verhält, und umgekehrt berät sie den deutschen Mainstream, wie man syrische kulturelle Codes lesen kann. Darüber hinaus sprechen die Beiträge auch die rechtspopulistische Partei AfD (Alternative für Deutschland) an, um „Alternative Narratives“ zu verbreiten.
Dr. Ahmad Izzo versteht derartige YouTube Kanäle als audiovisuelle Anleitungen für neu in Deutschland angekommene Syrer. Er analysierte die selbst produzierten Inhalte ausgewählter syrischer Vlogger, die sich um Erfahrungen, Schwierigkeiten und Probleme von Syrern in Deutschland drehen mit einem Fokus auf die Rolle der sog. „alten Syrer“, die vor der sogenannten „Flüchtlingskrise“ nach Deutschland kamen. Die Untersuchung der digitalen Kommunikation ist ein Schwerpunkt des neuen DFG-Projektes zu Communities von Syrerinnen und Syrern in Deutschland, das von Prof. Dr. Anton Escher geleitet wird und an dem Dr. Ahmad Izzo und Dipl.-Geogr. Marie Karner mitarbeiten.
Prof. Dr. Veronika Cummings (Geographie, JGU Mainz) gab einen Einblick in photographische Methoden zur Untersuchung der gelebten Trans-Lokalität von Sri-Lanker, die in die Golfstaaten migrierten. Die visuellen Narrative geben unter anderem einen Einblick in Praktiken des „home-makings“ und der Schaffung von „Interspaces“. Auch zeigt ihre Analyse, dass Fotos von Migranten eingesetzt werden, um Erfolgsgeschichten zu erzählen und soziale Anerkennung zu erfahren. Bei Heimatbesuchen zeigt der Habitus von Migranten einen Wechsel von „shame to fame“, was im bourdieuschen Sinne Ausdruck für Mobilität und Translokalität als Kapital ist.
Prof. Dr. Anastasia Christou (Geographie, Middlesex University London) dekonstruierte Erzählungen von männlichen Migranten um Maskulinität in Bezug auf Alter, „Race“ und Sexualität zu untersuchen. Die Erzählungen bieten emotionale, erfahrungsgeschichtliche und lebensgeschichtliche Berichte über Sehnsucht, Zugehörigkeit, Familie, Verwandtschaft, Identität, Machtverhältnisse und Respektabilität. Sie zeigte Brüche und Traumata auf, die „Masculinity“ herausfordern, bestätigen, neu konfigurieren und dis-lokalisieren.
Dank eines multiperspektivischen methodischen Ansatz, der Archivarbeit, Interviews mit Experten und Nachkommen sowie Besuche wichtiger Orte umfasst, zeigte Dipl.-Geogr. Helena Rapp (Geographie, JGU Mainz) den Einfluss eines in Schweden geborenen Künstlers und Kunstprofessors (1882-1966), der 1890 mit seiner Familie in die USA zog, auf die Kunst indigener Völker. Sie ging darauf ein, inwieweit die europäisch-kosmopolitische künstlerische Erzählung von Jacobson eine Idee und Vision von „Native American Art“ geformt und geschaffen hat und skizzierte, auf welche Art und Weise seine Handlungen „Alter-Narrative“ über indigene Völker und Stämme generierten.
Fatma Haron, M. A. (Europäische Ethnologie, Universität Innsbruck) zeigte am Beispiel von Äußerungen österreichischer Türken über den Konsum von „Gummibären“ auf, dass Überzeugungen oftmals nicht offen ausgesprochen, sondern auf symbolische Weise zum Ausdruck gebracht werden. Derartige Analysen können Aufschluss darüber geben, wie der politische Wandel in der Türkei und der Diskurs einer aufkommenden islamischen politischen Identität, innerhalb der türkischen Diaspora-Gemeinschaften in Österreich wahrgenommen werden.
In Anbetracht der Frage, ob Auslandspraktika im Rahmen von Bachelor-Studiengängen zwangsläufig kulturelle Kompetenz fördern, analysierte Prof. Dr. Louise Ackers (Sozialpolitik, University of Salford Manchester) Schilderungen von britischen Studenten, die für einen Monat nach Uganda reisen, um praktische Erfahrungen im Gesundheitsbereich zu sammeln. Sie zeigt auf, dass die Praktikanten Kultur auf ethnische Unterschiede reduzieren, während organisatorische oder wirtschaftliche Unterschiede ausgeblendet werden. Dadurch werden rassistische Stereotypen legitimiert, anstatt sie zu dekonstruieren. Der Vortrag wurde stellvertretend von Prof. Dr. Brigitte Bönisch-Brednich vorgetragen und via Skype mit Prof. Dr. Louise Ackers diskutiert. Er basiert auf einem gemeinsamen Forschungsprojekt mit Prof. Dr. Anya Ahmed, James Ackers-Johnson, MBA and Natalie Tate, MSc.
Dipl.-Geogr. Marie Karner (Geographie, JGU Mainz) zeigte an einem Beispiel, wie „Community Leader“ libanesischer diasporischer Dorfgemeinschaften heroisiert werden und dadurch Vorbildfunktionen für jüngere Generationen einnehmen. Mit Hilfe von Print- und Online-Medien werden Erzählungen über das Leben und die Herkunft von „Sheikh Youssef Stephan“, einem bedeutenden Politiker aus Kfarsghab, von Mitgliedern der Gemeinschaft weltweit verbreitet. Die Erzählungen stärken den Gruppenzusammenhalt, indem sie die Botschaft vermitteln, dass Engagement für die Gemeinschaft, eine gute Bildung und Ehrgeiz mit wirtschaftlichem Erfolg und sozialer Anerkennung einhergehen.
Erzählungen aus dem Forschungsprojekt “Ambiguous Presences“ präsentierte Prof. Dr. Marita Eastmond (Sozialanthropologie, University of Gothenburg). Zunächst ging sie auf „Narratives of Absence“ ein, die von ihrer Projektpartnerin Prof. Dr. Laura Huttunen (Sozialanthropologie, University of Tampere) untersucht werden. Sie arbeitet über „Narratives of Absence“ von Personen, die in einer der gewalttätigsten Gegenden während des Bosnienkrieges lebten. Anschließend thematisierte Prof. Dr. Marita Eastmond „Absence of Narratives“ am Beispiel von bosnischen Frauen in Schweden, die in Interviewsituationen ihre Erfahrungen der Verletzung im Zuge des Krieges mit „Silence“ kommunizieren.
Abschließend wurde die Frage “How to Tell the Migrant Story?” von Prof. Dr. Brigitte Bönisch-Brednich (Kulturantropologie, Victoria University of Wellington) aufgeworfen, um die Diskussionen der vergangenen drei Tage mit den Erkenntnissen des Vorgängerworkshops zusammen zu bringen. Vor diesem Hintergrund regte sie zum Nachdenken darüber an, welche „Migrant Narratives“ von Wissenschaftlern wiedergegeben und welche ausgeblendet werden, welche Rolle dabei öffentliche Diskurse spielen und auf welche Weise diese durch Forschungsergebnisse beeinflusst werden können. Hinzu kommt, dass Wissenschaftler Interviewsituationen durch unterschiedliche Faktoren wie die Einnahme bestimmter Positionen mit beeinflussen und sich daher kritisch mit ihrer Rolle auseinander setzen müssen. Auch bleibt die Frage offen, in welchem Verhältnis sich Wissenschaftler von theoretischen Trends, von politischen Überzeugungen und von ethnographischen Grundsätzen leiten lassen. In Anbetracht der „Gaps und Traps“ bei der Forschung plädierte Prof. Dr. Brigitte Bönisch-Brednich dafür, die ethnische Linse abzulegen und die Erzählungen von Flüchtlingen, Immigranten und Expatriats in Bezug auf Diversität (Alter, Geschlecht, Ausbildungsstand, Lebensstil, sexuelle Orientierung usw.) zu analysieren.
Der Vergleich von „Migrant Narratives“ kann dazu dienen, gewisse Mustererzählungen zu isolieren. Dabei können die Erzählungen aus unterschiedlichen Quellen entnommen werden, darunter qualitative Interviews, Blogs und Vlogs, Archivquellen, Briefe, Repräsentationen in Ausstellungen und Ämterbefragungen. Erzählungen von und über Migranten lassen sich unterschiedlichen Kategorien zuordnen, darunter Erzählungen über Opferrollen, über eingeschränkte bzw. steigende Handlungsmacht und über Erfolge mit entsprechenden raumzeitlichen Bezügen. Schilderungen von Flucht, Ankunft, Niederlassung, Verwandtschaftsbeziehungen und von dem Leben in dem neuen Land spiegeln den Übergang von „Being“ zu „Becoming“ und „Belonging“ wieder, wobei sie nicht linear erzählt werden. Die Erzählungen werden oft durch Vergleiche strukturiert, um das Andersseins hervorzuheben. Auch müssen Erzählungen von Migranten in der dritten Person als strategisches Mittel interpretiert werden, um kontroverse und emotional aufgeladene Themen ansprechen zu können. Dabei ist zu beachten, dass viele Migrantenerzählung wiederspiegeln, welche Themen, Meinungen und Bewertungen sozial konform sind, weshalb sie Ausdruck von gesellschaftlichen Zusammenhängen und Entwicklungen sind. Durch die Erzählungen werden einerseits bestimmte Rollen von Migranten konstruiert, wie die des „Model Migrant“, des „Victims“, des „Refugee Becoming Immigrant“, des „Heros“ und des „Cultural Brokers“, andererseits wird die Gastgesellschaft als „Saintly Host“, „Guarded Host“, „Invitation Only Host“, „Interim Host“, „Aggressive Doorkeeper“ oder „Dreaded Host“ beschrieben.
Wir danken allen Teilnehmern des Workshops für die spannenden Beiträge und freuen uns auf die zukünftige Zusammenarbeit und die nächste Veranstaltung im Jahr 2019!!!
(Fotos und Zusammenfassung von Marie Karner, 2018)