Wie Schofar und Kedushah die Fassadenarchitektur formen

Modell der Neuen Synagoge in Mainz. Copyright: Bildnummer: JUED012/ © Sascha Kopp

Diese außergewöhnliche Gestalt basiert auf zwei zeichenhaften Motiven, welche der äußeren Gestaltungsform als Basis zu Grunde liegen und Interpretationsinhalt darlegen. Durch das sich nach oben trichterförmig öffnende Dach des Gebetsraums entsteht die angleichende Außengestaltung und Assoziation mit einem Schofar und somit die Erinnerung an das Vertrauen zwischen Gott und den Menschen sowie die Entstehung und das Gefühl neuer Hoffnungen. Nicht nur der Ruf nach dem Göttlichen, sondern auch das Empfangen seines ewigen Lichtes und der miteinhergehenden Weisheit wird durch diese Form und das Fenster ermöglicht. Des Weiteren ist durch den natürlichen Lichteinfall die Möglichkeit zur Durchführung eines Gemeindegottesdienstes gewährleistet.

Auch eine weitere symbolhafte Bedeutung wird durch die Außengestaltung auf den Bau übertragen. Die fünf hebräischen Buchstaben des Wortes Kedushah (קדושה ) formen die Silhouette des Gebäudes, geben ihm Kontur und seine einmalige Form. Das jüdische Gemeindezentrum wird durch die wörtliche Bedeutung der „Heiligung“ und den damit einhergehenden Segen nicht nur als profaner Gegenstand sakralisiert, sondern auch geheiligt. Dieses Motiv soll sich sowohl auf die Architektur, als auch auf die Gemeinde übertragen. Beide werden wie das formgebende Wort durch die Segnung aus dem Alltäglichen herausgehoben und zu etwas Besonderem gemacht. Dennoch verlieren sie durch angleichende Gestaltung an die urbane Umgebung nicht ihren Ursprung und können sich der Wortbedeutung entsprechend durch völliger Hingabe an Gott sittlich vollkommen machen, sich Gott und dem religiösen Zweck widmen, etwas heilig halten und es als gerechtfertigt und moralisch unantastbar erscheinen lassen, ohne dabei die heilende Wirkung auf alle außer Acht zu lassen. Die Dimensionalität und Objektqualität wird also nicht nur durch das Wort an sich zum Ausdruck gebracht, sondern auch durch die besondere Ausprägung und Qualität der Gegenständlichkeit, welche hebräische Buchstaben zugeschrieben wird. In der jüdischen Tradition hat jeder Letter einen eigenen Sinngehalt inne. Dieser wird von Gott gegeben und mit einer Prägung in seiner Wirkung versehen.

Diese Dimensionalität und Objektqualität wird durch die Struktur der Keramikfassaden zum Ausdruck gebracht. Sie vermittelt dem Betrachter durch ihre Anordnung der Muster eine weitere Perspektive und das Gefühl von Räumlichkeit. Durch ihre blau-grün schimmernde Oberfläche, den tausend individuell glasierten, übereinander angeordneten Kacheln und den Camouflage-Effekt sowie den Spiegelungen der Umgebung löst sie einen starken haptischen Aspekt aus und es wird die Option des fühlenden Nachvollziehens des Wortes auf einer dritten Ebene angeboten. Die geflammte, glänzende und unebene Fassade als Werkstoff soll nicht nur die Blickführung unterstützen, sondern auch Neugierig machen und zum Nähern und Auseinandersetzen anregen. Die Gestaltung der Fassade bringt um die Fester herum und durch die verschiedenen Fluchtpunkte in dem Muster eine weitere Dimensionalität zum Ausdruck und betont die besondere Rolle des Lichts. Auch thematisiert sie durch die gerillte und gefurchte Oberflächenstruktur und die Sattelform die Jahresringe des Schofars. Das Spiel und die Brechung mit Licht und Schatten und die dadurch entstehenden Grüneffekte symbolisieren nicht nur die Farbreihe der Mitte, Hoffnung und Unsterblichkeit, sondern stellen ebenso einen Bezug zum Schreiben und der heiligen Schrift her. Die Struktur gleicht dem Prozess des Inskribierens oder Herausformens von Buchstaben in der Fassade. Es scheint wie ein fließender Schriftzug, der durch auf- und abformende Rillen festgehalten werden soll.

Seinen unkonventionellen Ansatz für eine Architektur, welche stark auf religiösen Aspekten und Erwägungen basiert, gewinnt der Architekt unter anderem aus dem Talmud. In ihm befinden sich Texte zur Auffassung und Idee von Raum im Judentum. Dieser ist nicht in Bauten realisiert, sondern in Form des geschriebenen Wortes. Der Talmud wurde in Zeiten der Zerstreuung und des Exils zu einem geographischem Zentrum und Heimatort. Er weist in seiner Struktur selbst eine  räumliche Dimension auf. So wurde die Umsetzung von Werten und das Credo der jüdischen Religion in der Kultur des Schreibens und des Wortes verankert und von Manuel Herz in der räumlichen Anwendung seiner kraftvollen Symbole als ein Teil der Erinnerungskultur verwendet. Dabei wird der materielle Aspekt stark betont und die nicht weit verbreiteten Schriftzeichen des Talmud regelrecht monumentalisiert. Er setzt die Betonung und Ablösung der Buchstabenbedeutung in ein Objekt um, damit Jedermann nachvollziehen kann, dass hinter der jüdischen Religionsausübung mehr steckt: eine eigene Schriftkultur. Dieser Grundgedanke wird im Inneren der Architektur fortgeführt. Es werden Räume in das Wort geschrieben und Worte in die Räume.

So soll das Wort auf verschiedenste Weisen nachvollzogen werden und sowohl an die besondere Schriftkultur in Mainz während dem Mittelalter erinnern als auch an den großen Rabbiner Gerschom ben Jehuda.

Magenza im Wandel der Zeit

Quellen zur Neuen Synagoge

Text: Lara Koch