Themenschwerpunkt »Standpunkte, Koordinaten, Horizonte – Sich in der Welt orientieren« – Konzept – Wintersemester 2018/2019

Die Fähigkeit, den eigenen Aufenthaltsort zu bestimmen und sich in der Umwelt zurechtzufinden, ist von elementarer Bedeutung. Ohne Orientierung im Raum könnten Tiere und Menschen nicht überleben. Dabei zeigen sich verschiedene Strategien: Insekten verfügen über ein Wegintegrations-system, das es ihnen ermöglicht, sich ohne Bezug auf Objekte und Strukturen der Umgebung zu orientieren. Bei Säugern hat sich ein komplexeres System entwickelt, das mit mentalen Karten arbeitet, Erinnerungen an Routen speichert und zum Planen künftiger Unternehmungen verwendet. Beim Menschen unterliegen Orientierungsstrategien auch kulturellem Einfluss. Viele Fragen zum neuronalen Navigationssystem, das in mancherlei Hinsicht dem GPS in Navigationsgeräten ähnelt, sind in der Forschung noch offen.

'Sich-Orientieren' ist zudem eine Metapher für das 'Sich-Zurechtfinden' im Leben und in der Welt überhaupt. Im Kontext einer von der Wissenschaft geprägten Zivilisation und unter den soziokulturellen Bedingungen der Gegenwart stellt sich das 'Sich-Zurechtfinden' aber als besonders schwierig dar: Wir erleben eine rasante wissenschaftlich-technische Progression, Wissensbestände und die Menge des Machbaren wachsen, aber unser Wissen um die Folgen unseres Handelns ist begrenzt. In der pluralen Gesellschaft treffen widersprüchliche Normen und religiöse Positionen aufeinander und stellen sich gegenseitig in Frage. Traditionelle Autoritäten und überkommene Strukturen der Lebensgestaltung verlieren an Relevanz und vertraute Muster der Alltagsbewältigung versagen. Gleichzeitig sehen wir uns ständig einer überwältigenden Fülle von Handlungsoptionen und Entscheidungserfordernissen gegenüber. Konfrontiert mit einem hohen Maß an Komplexität und ohne verbindlich vorgegebene Koordinaten stehen wir somit täglich vor der Aufgabe, handelnd unseren Weg finden zu müssen. Das setzt besondere Kompetenzen zur Orientierung voraus.

Wie funktioniert Orientierung im Raum? Welche Fähigkeiten verhelfen uns zur Orientierung in unserem individuellen Leben in der gegenwärtigen Welt? Welche Rolle spielen Bildung, Wissen über Wissenschaften und kritisches Urteilsvermögen, um eigene Standpunkte entwickeln zu können? Wie entstehen Orientierungskrisen und welche Maßnahmen versprechen Abhilfe?

In seinem Jubiläumsjahr nimmt das Mainzer Studium generale, das mit seiner Arbeit Horizonte eröffnen und Anhaltspunkte für den Prozess der individuellen Orientierung geben möchte, das Phänomen Orientierung in den Blick und bezieht – seinem interdisziplinären Ansatz entsprechend – die Sichtweisen von Natur-, Kultur- und Sozialwissenschaften und der Philosophie in die Betrachtung ein.