PD Dr. A. Gerok-Reiter – Vortragsexposé – Wintersemester 2004/2005

IAK MEDIÄVISTIK / STUDIUM GENERALE

ANGST UND TERROR IM MITTELALTER

PD Dr. Annette Gerok-Reiter

Die Angst des Helden und des Hörers.
Stationen einer Umbewertung in mittelhochdeutscher Literatur

Donnerstag, 06. Januar 2005, 18.15 Uhr, P 3 (Philosophicum)

Dass das Mittelalter ein ´finsteres Zeitalter´ war, dürfte zu den überholten Klischees früherer Klassifizierungen gehören. Dass das mittelalterliche Lebensgefühl jedoch wesentlich mitbestimmt wurde durch Angst, Unsicherheit, Verletzbarkeit, ist sicherlich nicht von der Hand zu weisen. Die mittelhochdeutschen Epen scheinen demgegenüber das Illusionsbild einer zwar nicht angstlosen, dennoch aber beherrschbaren Welt entworfen zu haben, in deren Mittelpunkt der ideale Held steht, der sich furchtlos allen Gefahren stellt und sie meistert. Dieser Eindruck, den die Textoberflächen in der Regel bieten, relativiert sich jedoch auf den zweiten Blick: Auf der Ebene eines Subtextes erweist sich die Angst als ebenso nachhaltiges wie subtiles Prinzip der Figurensteuerung, das einerseits die anthropologisch und mentalitätsgeschichtlich geprägten Angstszenarien der Zeit auffängt und modifiziert, andererseits in den impliziten Rezeptionsanweisungen für den Hörer/Leser zu einem Medium der Einübung von Angstgefühlen, Angst-haben-dürfen, Angstbewältigung wird: die mittelalterliche Literatur also eine ´Eliteschulung´ im Umgang mit der Angst?

PD Dr. Annette Gerok-Reiter, geb. 1961, Studium der Germanistik und Philosophie in Tübingen und Basel, Promotion 1992 zur modernen deutsche Lyrik, danach Fachwechsel zur älteren deutschen Literatur, Habilitationsarbeit zur Individualität in der mittelhochdeutschen Epik; seit 2002 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Seminar, Mainz; Forschungs- und Publikationsschwerpunkte im Bereich der mittelhochdeutschen Epik, der historischen Semantik und mittelalterlichen Literaturtheorie.