Prof. Dr. Hartmut Rosa – Vortragsexposé – Wintersemester 2011/2012

STUDIUM GENERALE: MAINZER UNIVERSITÄTSGESPRÄCHE
"Welt ohne Stillstand – Bewegung als Prinzip"

Prof. Dr. Hartmut Rosa
(Institut für Soziologie, Friedrich-Schiller-Universität Jena)

Wachstum, Beschleunigung, Innovationsverdichtung:
Die unerbittliche Steigerungslogik der modernen Gesellschaft

Mittwoch, 8. Februar 2012, 18:15 Uhr, Hörsaal N 1 (Muschel)

Moderne Gesellschaften sind dadurch gekennzeichnet, dass sie sich nur dynamisch zu stabilisieren vermögen. Das bedeutet, dass sie unaufhörlich wachsen, beschleunigen und sich verändern müssen, um sich zu erhalten. Augenfällig wird dies vor allem in der Wirtschaft: Wenn diese nicht wächst, gerät sie in eine bestandsbedrohende Krise. Ähnliches gilt aber auch für die Kunst, die Politik oder die Wissenschaft: Der Wissenschaftsbetrieb lebt nicht davon, Wissen zu bewahren oder weiterzugeben, sondern ist darauf angewiesen, unaufhörlich neue Forschungsprogramme aufzulegen; Kunst besteht in der Hervorbringung des immer Neuen, Gesetzgebung ist zu einem unaufhörlichen dynamischen Prozess geworden usw. Steigerung und Bewegung dienen daher nicht mehr, oder nicht in erster Linie, der Verbesserung, sondern sie sind notwendig zur Erhaltung des Status quo: Ohne Wachstum, Beschleunigung und Innovation können wir weder unsere wirtschaftlichen noch unsere politischen, sozialstaatlichen oder sogar rechtlichen Strukturen aufrechterhalten. Dieser Umstand führt in der Spätmoderne zu der sich ausbreitenden Wahrnehmung eines 'rasenden Stillstandes': Obwohl wir weiter wachsen und beschleunigen, wird unsere Welt, unser Leben oder unsere Gesellschaft nicht besser – sondern ganz im Gegenteil: Wachstum und Beschleunigung erzeugen ihrerseits ökologische, psychische und soziale Folgeschäden, und so erwartet zum ersten Mal in der Geschichte der Moderne die Elterngeneration auch gar nicht mehr, dass ihre Kinder es einmal besser haben werden – sie hofft nur noch, dass es nicht viel schlimmer kommt. Wir wachsen, beschleunigen und innovieren nicht mehr, um die Dinge zu verbessern, sondern vor allem, um einen Absturz in die Katastrophe zu vermeiden. Der Vortrag will einerseits die Ursprünge, Zwänge und Konsequenzen dieser Form dynamischer Stabilisierung herausarbeiten und andererseits die Möglichkeiten dafür sondieren, nicht steigerungsabhängige Formen moderner Stabilisierung zu finden.

Prof. Dr. Hartmut Rosa, Studium der Politikwissenschaft, Philosophie und Germanistik an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg und an der London School of Economics and Political Science in London; 1997 Promotion in Politikwissenschaft, Humboldt-Universität zu Berlin; 2004 Habilitation in Soziologie und Politikwissenschaft, Friedrich-Schiller-Universität Jena. Seit 2005 ist Hartmut Rosa Professor für Allgemeine und Theoretische Soziologie an der Universität Jena. – Arbeitsgebiete: Zeitdiagnose und Moderneanalyse, normative und empirische Grundlagen der Gesellschaftskritik, Subjekt- und Identitätstheorien, Zeitsoziologie und Beschleunigungstheorie, Soziologie der Weltbeziehung.