Prof. Dr. Björn Burkhardt – Vortragsexposé – Wintersemester 2004/2005

THEMENSCHWERPUNKT DES STUDIUM GENERALE
OPFER UND TÄTER

Prof. Dr. Björn Burkhardt (Mannheim)

Neurobiologie contra Schuldstrafrecht?

Dienstag, 7. Dezember 2004, 18.15 Uhr, Hörsaal N 3 (Muschel)

Die Konstruktion individueller Verantwortlichkeit im Strafrecht beruht auf alltagspsychologischen Vorstellungen. Zwei Annahmen sind dabei von zentraler Bedeutung, nämlich
– erstens, dass unsere Wünsche und Überzeugungen bei der Hervorbringung unseres Verhaltens eine kausale Rolle spielen,
– zweitens, dass das, was die Zukunft bringt, auch von unseren bewussten Entscheidungen abhängt, dass wir im Prinzip »frei« zwischen verschiedenen Optionen wählen können und dass es meist an uns und an niemandem sonst liegt, für welche Option wir uns entscheiden.
Führende deutsche Hirnforscher ziehen diese Annahmen in Zweifel. Sie behaupten, dass die Ergebnisse ihrer Forschung eine tiefgreifende Veränderung unseres Selbstverständnisses erzwingen und dem Prinzip der persönlichen Schuld die Grundlage entziehen.
Der Vortrag widerspricht diesen Behauptungen. Wesentliche Thesen sind: (1) Das Strafrecht muss die Menschen so nehmen, wie sie sich selbst erleben. (2) Das Bewusstsein des Anderskönnens ist ein Grund¬bestandteil des allgemeinmenschlichen Daseinserlebens. (3) Das Bewusstsein des Anderskönnens stimmt normalerweise mit der Wirklichkeit überein. Die Behauptung, erlebte Entscheidungsfreiheit sei eine Illusion, ist unzutreffend. (4) Strafrechtliche Schuld setzt voraus, dass die rechtswidrige Tat im Be¬wusstsein des Anderskönnens vollzogen worden ist.

Björn Burkhardt wurde 1945 in Prag geboren. Er studierte von 1965–1970 in Tübingen Rechtswissen¬schaft. 1975 wurde ihm von der Universität Bielefeld die Doktorwürde verliehen. 1980 habilitierte er sich in Tübingen mit einer Arbeit über »Schuld und Andershandelnkönnen« für die Fächer Strafrecht und Rechtsphilosophie. Von 1980 bis 1990 lehrte er als Professor für Strafrecht an der Universität Göttingen. Seit 1990 ist er Inhaber eines Lehrstuhls für Strafrecht, Strafprozessrecht, ausländisches und internatio¬nales Strafrecht an der Universität Mannheim. Seine Hauptforschungsinteressen liegen im Bereich der psychologischen und philo¬sophischen Grundlagen des Strafrechts.

Nächster Vortrag in dieser Reihe:
Prof. Dr. Dr. h. c. Kurt Seelmann (Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie, Basel)
Opferschutz versus Täterschutz im Strafrecht
Dienstag, 11. Januar 2005, 18.15 Uhr, Hörsaal N 3 (Muschel)