Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Otto Gerhard Oexle – Vortragsexposé – Wintersemester 2007/2008

STUDIUM GENERALE: 100. MAINZER UNIVERSITÄTSGESPRÄCHE

"TRADITION IST GEGENWART – ZUR KULTURELLEN WENDE IN DEN WISSENSCHAFTEN"


Prof. Dr. Dr. h. c. mult.
Otto Gerhard Oexle (Göttingen)

Geschichte als Historische Kulturwissenschaft – heute

Mittwoch, 12. Dezember 2007, 18:15 Uhr, Hörsaal N 3 (Muschel)

Ist Wissenschaft ein unaufhaltsamer Prozess des Fortschritts von Erkenntnis zu Erkenntnis, von einem "ausgeforschten Gegenstand" zum nächsten? Oder vollzieht sich Wissenschaft im Konflikt grundsätzlicher Paradigmen, zum Beispiel der Auseinandersetzung zwischen Empirismus und Rationalismus? Dabei geht es um die Grundsatzfrage, ob – so die empiristische These – der Intellekt eine 'tabula rasa', ein leeres, weißes Blatt ist, das dann durch Außenreize aufgrund empirischer (experimenteller) Tätigkeit allmählich gefüllt und beschrieben wird. Beruht somit alles wissenschaftliche Wissen allein auf empirischer Wahrnehmung (so im 18. Jahrhundert John Locke)? Oder – und das ist die Gegenthese des sogenannten 'Rationalismus' – verhält es sich so, dass es für empirische Arbeit Bedingungen gibt, welche ihrerseits keinen empirischen Charakter haben? Das war die Grundthese der Wissenschaftsphilosophie eines Blaise Pascal (des bedeutendsten Physikers und Mathematikers des 17. Jahrhunderts), eines Gottfried Wilhelm Leibniz im beginnenden 18., eines Immanuel Kant ('Kritik der reinen Vernunft', 1781). Solche Paradigmenkämpfe sind freilich nicht bloß historisch, sie werden immer wieder aufs neue höchst aktuell, wie die soeben in Deutschland gelaufene Kontroverse über Neurowissenschaft und Hirnforschung gezeigt hat.
Ein anderer großer Paradigmenstreit ist der über Natur-Wissenschaft und Kultur-Wissenschaft, insbesondere Geschichts-Wissenschaft. Diese Kontroverse wurzelt in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Der zentrale fachinterne Paradigmenkampf – ein drittes Beispiel – der Historiker in Deutschland war die das 19. Jahrhundert und die Zeit bis 1933 prägende Kontroverse von Rankeanern ("Wie es eigentlich gewesen"), Kantianern und Nietzscheanern. Die von diesen Positionen gestellten Fragen führten vor allem seit dem ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts und insbesondere durch die Philosophen Georg Simmel und Ernst Cassirer sowie den Historiker Max Weber zur Neubestimmung einer Form von Wissenschaft, die man als 'Historische Kulturwissenschaft' bezeichnen kann. Nach der totalen Vertreibung der Kantianer 1933 ist seit den 1980er Jahren ein neues Interesse zu verzeichnen (sog. "kulturwissenschaftlicher Turn").
Der Vortrag gilt dem Thema, wieweit diese 'Historische Kulturwissenschaft' eine noch heute maßgebende, ja eine zukunftsweisende Form von Wissenschaft darstellt. Der Vortrag bestimmt (1) zunächst den Begriff der 'Kultur' und definiert sodann (2) 'Kultur' als 'Gegenstands-Begriff' und (3) als 'Reflexions-Begriff'.
Am Ende steht die These, dass die 'Historische Kulturwissenschaft' vom Beginn des 20. Jahrhunderts als "die eigentliche Blütezeit" der kulturellen Moderne zu gelten hat, "in deren Bann wir auch gegenwärtig noch stehen und die genau jene epochalen Probleme aufgeworfen hat, die auch heute noch die unseren sind" (Klaus Lichtblau). Es geht nicht um eine pietätvolle Lektüre von Klassikern oder gar um die bloße Anwendung ihrer Konzepte von damals. Vielmehr geht es um die Wahrnehmung eines ganzen Ensembles von 'Klassikern' und ihrer Problemdefinition und Problemanalysen, die in einer Zeit der Krise und rascher Veränderungen entstanden und deshalb bis heute relevant sind. Es geht also nicht um eine traditionsorientierte erneute Aneignung von Lösungen, sondern um eine problemorientierte Aneignung von Fragestellungen und Perspektiven. Der 'Kultur'-Begriff der 'Historischen Kulturwissenschaft' impliziert eine konsequent re-problematisierende Einstellung. Das heißt: er bedeutet die Aufwertung von Status und Funktion der Selbstthematisierung vergangener und gegenwärtiger Gesellschaften samt ihren Formen von Wissen und Wissenschaft.

Otto Gerhard Oexle, geb. 1939 in Singen a. H. (Baden-Württemberg). 1958–1965 Studium der Geschichte und Romanistik an den Universitäten Freiburg i. B., Poitiers (Frankreich) und Köln. 1965 Promotion zum Dr. phil. an der Universität Freiburg i. B. 1965 Wissenschaftlicher Assistent an der Universität Münster/Westfalen. 1973 Habilitation an der Universität Münster/Westfalen. 1975 Wissenschaftlicher Rat und Professor an der Universität Münster. 1975 Gastprofessor an der Universität Tel Aviv (Israel). 1980 Professor (C 4) an der Universität Hannover. 1987 Direktor und Wissenschaftliches Mitglied am Max-Planck-Institut für Geschichte (bis 2004) und Honorarprofessor für Mittlere und Neuere Geschichte an der Universität Göttingen.

Arbeitsgebiete: Sozialgeschichte des Mittelalters mit Veröffentlichungen über Memoria, Adel, Mönchtum, Deutungen der Ständegesellschaft, Armut, Friede und vor allem über Denkformen, soziale Praxis und Institutionen von sozialen Gruppen in der Gesellschaft; Geschichte der Geschichtswissenschaft und der Kulturwissenschaften im 19. und 20. Jahrhundert; Theorie der historischen Erkenntnis.

Wissenschaftliche Ehrungen: 1990 Ordentliches Mitglied der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. 1996 Corresponding Fellow der Royal Historical Society (London). 1999 Ehrenmitglied der Russian Association of Medievalists and Early Modern Historians (Moskau). 2001 Doctor honoris causa der Universität Paris I Panthéon/Sorbonne. 2003 Doctor honoris causa der Nikolaus-Kopernikus-Universität Toruń (Polen).

Nächster Vortrag in dieser Reihe:
Prof. Dr. Karl-Heinz Kohl
(Professor für Kultur- und Völkerkunde, Direktor des Frobenius-Instituts, Universität Frankfurt am Main)
Die Tradition der Ethnologie und die Rekonstruktion von Traditionen
Mittwoch, 9. Januar 2008, 18:15 Uhr, Hörsaal N 3 (Muschel)