Aus der Mitte der Gesellschaft: Dschihadistische Medienarbeit im Internet und die Auseinandersetzung damit

Neue Buchpublikation befasst sich mit der Nutzung audiovisueller Medien durch dschihadistische Gruppen und ihre Unterstützer sowie dem Widerstand dagegen

14.01.2021

Die jüngsten Anschläge von Dschihadisten in Kabul, Dresden, Paris und Wien haben das Problem des islamistischen Terrors wieder stärker in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt. Diese Ereignisse zeigen einmal mehr, wie wichtig es ist, die Rolle dschihadistischer Medienproduktionen wie zum Beispiel Videos und ihre Verbreitung im Internet und in den sozialen Medien zu verstehen. Eine Nachwuchsforschergruppe an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) hat in den vergangenen drei Jahren Dutzende dschihadistischer Videos eingehend analysiert. "Auffallend ist, dass sich die Videoproduktionen sehr stark an unseren, vom globalen Kino und Fernsehen geprägten Sehgewohnheiten orientieren", erklärt Dr. Christoph Günther, Leiter der Nachwuchsforschergruppe. Während dschihadistische Videos in der Öffentlichkeit hohe Aufmerksamkeit erfahren, werden hingegen Oppositionelle, die sich mit ihrer künstlerischen Arbeit den Bildern der radikalen Islamisten entgegenstellen, in der breiten Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Diese und weitere Ergebnisse ihrer Analysen hat die Forschergruppe in einem Sammelband mit dem Titel Jihadi Audiovisuality and its Entanglements: Meanings, Aesthetics, Appropriations bei Edinburgh University Press veröffentlicht.

Online-Darstellungen werden aus Sicht der Islamwissenschaft, Ethnologie und Film- und Medienwissenschaft analysiert

Die Nachwuchsforschergruppe "Dschihadismus im Internet" wird seit 2017 vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert. Das Team verfügt mittlerweile über einen Bestand von rund 2.500 Videos, die frühesten stammen vom Beginn der 1980er-Jahre, die jüngsten von Ende 2020. Unter den Videos sind Aufnahmen mit gewöhnlichen Alltagsdarstellungen: Männer beim Fischen oder Kinder, die Karussell fahren. Andere zeigen Erschießungen, Enthauptungen und militärische Auseinandersetzungen. Gemeinsam ist diesen Produktionen die Zielrichtung. "Sie versuchen immer, eine Idealvorstellung von gottgefälligem Leben ins Bild zu setzen und dies auch mit Klängen zu unterstreichen", sagt der Islamwissenschaftler Christoph Günther. Die Gruppe hat bislang etwa 80 Videos intensiv untersucht. Die Analyse der einzelnen Videos erfolgt dabei vor allem in kollaborativer Weise durch alle sechs Mitglieder des Forschungsteams, die jeweils ihren Schwerpunkt aus der Islamwissenschaft, der Ethnologie und der Film- und Medienwissenschaft einbringen.

Geleitet werden die Analysen von dem Konzept der "Audiovisualität". Das heißt, es wird nicht nur die reine Darstellung von etwas untersucht, sondern auch wie es vermittelt wird, welche Empfindungen und welche Interpretationen es hervorruft. "Wir nehmen alle sensorischen Stimuli ernst, die auf den Zuschauer wirken", sagt Dr. Simone Pfeifer, die den Sammelband zusammen mit Dr. Christoph Günther herausgibt. Ideologie und Lehrmeinungen werden in audiovisuellen Medien nicht nur durch Sprache oder Bilder ausgedrückt. "Wir finden diese Sicht auf die Welt in allen Medien und in ganz alltäglichen Zusammenhängen, etwa in einer Körperhaltung oder einer Geste, in Umgangsformen und vielen verschiedenen Darstellungen von Zugehörigkeit", so Pfeifer. Besonders interessant ist für die Forschergruppe, welche Beziehung zwischen den Produzenten der Videos und den Zuschauern entsteht und welche Eigenmacht das gezeigte Material entfaltet.

Widerstand gegen dschihadistische Propaganda im Netz wird in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen

Auffällig ist bei den Produktionen unter anderem eine bestimmte Kameraführung, die sich an Darstellungen für Kino oder Fernsehen orientiert. Auch sonst passen sich die audiovisuellen Botschaften der dschihadistischen Gruppen unseren Sehgewohnheiten an. "Das ist nicht verwunderlich. Die an der Produktion dieser Bilder und Sounds beteiligten Menschen sind mit denselben Filmen, Musiken und Computerspielen aufgewachsen wie wir selbst, sie kommen aus unserer Mitte und greifen den Mainstream auf." Christoph Günther weist jedoch auch darauf hin, dass gewaltverherrlichende Videos von Gruppen wie dem selbsternannten Islamischen Staat oder anderen Terrormilizen auf starken Gegenwind seitens muslimischer Aktivistinnen und Aktivisten stoßen. "Diese Oppositionellen kommen in der öffentlichen Wahrnehmung allerdings kaum vor." Sie versuchen, mit Kreativität und künstlerischer Arbeit den dschihadistischen Bildern die Macht zu entziehen – teilweise theologisch, teilweise politisch motiviert. Dazu gehört beispielsweise die Verballhornung von Anaschid, A-capella-Hymnen, die ausschließlich von männlichen Stimmen vorgetragen werden. Diese Gesänge und überhaupt die häufig unterschätzte akustische Dimension dschihadistischer Darstellungen werden von der Forschergruppe ebenfalls eingehend untersucht und in dem Sammelband vorgestellt.

Die Arbeit der Gruppe ist damit aber nicht beendet. Sie will bis Jahresende 2021 ein Video-Annotationstool veröffentlichen, in das alle archivierten Videos eingespeist und mit Informationen angereichert werden können. "TIMAAT" – für Time Based Image Annotation Tool – soll dann für Bildungszwecke in Schulen und an Universitäten zum Einsatz kommen und als Werkzeug kostenfrei für andere Projekte in den Geistes- und Sozialwissenschaften zur Verfügung stehen. Die Nachwuchsforschergruppe "Dschihadismus im Internet" setzt ihre Arbeit noch bis Mai 2022 fort und wird während der fünfjährigen Laufzeit aus BMBF-Mitteln mit insgesamt 2,7 Millionen Euro gefördert.