Der Mensch steht stärker im Mittelpunkt

4. Juli 2017

Ein grundlegender Kulturwechsel steht bevor, davon ist Prof. Dr. Dr.-Ing. E.h. Henning Kagermann überzeugt. Als Gast in Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Wolfgang Wahlsters Vorlesungsreihe "Künstliche Intelligenz für den Menschen: Digitalisierung mit Verstand" sprach der ehemalige SAP-Chef über die großen Zukunftsprojekte der Bundesregierung und ihre Auswirkungen auf Wirtschaft und Gesellschaft.

"Ich freue mich sehr, heute einen ganz besonderen Gast begrüßen zu können", verkündet Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Wolfgang Wahlster. Mit Prof. Dr. Dr.-Ing. E.h. Henning Kagermann präsentiert der Johannes Gutenberg-Stiftungsprofessor einen Mann, der sowohl in der freien Wirtschaft als auch in der Forschung zu Hause ist. "Über elf Jahre hinweg hat er die Geschicke von SAP geleitet." Er habe den Software-Riesen zu einem Unternehmen von Weltgeltung gemacht. Aktuell ist Kagermann Präsident von acatech, der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften. "Und er leitet den Innovationsdialog mit der Kanzlerin."

In Wahlsters Vorlesungsreihe "Künstliche Intelligenz für den Menschen: Digitalisierung mit Verstand" will Kagermann über "Die Smart Service Welt: Disruptive Geschäftsmodelle in einer Plattform-Ökonomie" sprechen. Die Smart Service Welt ist neben Industrie 4.0 und den autonomen Systemen das dritte große Zukunftsprojekt der Bundesrepublik, das Wahlster und Kagermann mit auf den Weg gebracht haben.

Smart Product, Smart Machine

Der Nutzer, der Konsument soll weiter ins Zentrum gerückt werden. Das ist einer der Kernsätze Kagermanns. "Da werden viele von Ihnen sagen: Das sind doch alte Kamellen." Doch gerade Industrie 4.0 mache es möglich, diesem alten Prinzip neuen Schwung zu verleihen. "Wir wollen das Beste aus der Welt der Massenproduktion mit dem Besten aus der Welt der Manufakturen zusammenbringen." Damit entstünden individuelle, ganz auf den Kunden zugeschnittene Produkte zu Bedingungen der Massenproduktion.

Wahlster skizzierte in seiner Vorlesungsreihe bereits, was unter Industrie 4.0 zu verstehen ist, nun beleuchtet Kagermann das Projekt noch mal aus seinem Blickwinkel: Smart Products unterstützen aktiv den Produktionsprozess, Smart Machines handeln gemeinsam mit dem Menschen in hybriden Teams. Lebenslanges Lernen ermöglicht den Mitarbeitern, über alle Veränderungen und Anpassungen an die Kundenbedürfnisse auf dem Laufenden zu bleiben. Das Ziel ist die "agile, lernende, wandlungsfähige Fabrik".

"Alles wird heute intelligent", meint Kagermann. Ob Kühlschrank oder Auto – jedes Produkt ist smart. Es weiß, wie es hergestellt wird. Es nimmt Einfluss darauf. "Und wenn die Produkte so intelligent sind, verlieren sie die Intelligenz nicht, wenn sie beim Kunden sind. Aus dem Verhalten ihrer Umwelt generieren sie immer mehr Daten."

Mit dem Zugriff auf diese Daten lasse sich ein Zusatzgeschäft machen: Sie geben schließlich Auskunft darüber, wie der Kunde ein Gerät nutzt, sie geben Hinweise, was am Produkt zu verbessern wäre, was der Kunde noch gebrauchen könnte. "Wir möchten herausfinden, was er möchte, was seine Intention ist."

Datenbasierte Geschäftsmodelle

Smart Data über das Produkt, den Nutzer und die Nutzung sind die Grundlage für die Smart Service Welt. Smart Data ermöglichen datengetriebene Geschäftsmodelle auf der Basis digitaler Infrastrukturen. "Wir haben die Daten als eigenständige Ressource entkoppelt."

Solche datenbasierte Geschäftsmodelle nennt Kagermann "disruptiv", denn sie führen zu einem tiefgreifenden kulturellen Wandel. Bisher gab es den Kunden auf der einen, den Hersteller auf der anderen Seite. Nun kommt ein neuer Faktor hinzu: Die generierten Daten auf der digitalen Plattform. Viele Seiten wollen über diese Plattform verfügen. Nicht nur Hersteller und Kunden wollen die Daten haben, auch Serviceanbieter und andere Interessenten schalten sich ein.

"An den Daten über die Nutzung eines Fahrzeugs sind viele Leute interessiert", nennt Kagermann ein Beispiel. Daraus ergibt sich eine wichtige Frage: "Was davon gehört dem Hersteller, was dem Fahrer?" Sicherheitsrelevante Daten seien hochinteressant für den Hersteller. Aber auch eine Kommune könne sich für Daten interessieren, wenn es etwa um Belange des sicheren Verkehrs gehe. Auf die Spitze getrieben werde dieser Problemkomplex beim autonomen Auto. Da gebe es ganz neue Akteure und ganz neue Verantwortlichkeiten.

Kagermann sieht aktuell vor allem drei Geschäftsmodelle: Die Datenplattform bleibt unter der Regie der Herstellers, sie steht einem Serviceanbieter zur Verfügung – oder jemand schaltet sich als Vermittler ein: "Er sitzt dazwischen. Das ist es, was heute passiert."

Veränderte Arbeitswelt

Es entsteht eine eigene Plattform-Ökonomie: Daten werden vernetzt, durch weitere Datensätze ergänzt, und je mehr Menschen die Plattform nutzen, desto attraktiver wird sie. Kagermann vergleicht das mit dem Wachstum der sozialen Netzwerke.

Die Plattform wird zum Vermittler zwischen vielen, eventuell auch konkurrierenden Parteien: Diverse Hersteller präsentieren ihre Produkte, verschiedenste Kunden geben an, was sie benötigen. Die Plattform koordiniert. Natürlich muss solch eine Plattform gewissen Grundsätzen folgen, eine Plattform-Governance muss her: Regeln müssen gefunden werden, unter anderem muss die Neutralität einer solchen Plattform gewährleistet sein.

Industrie 4.0, Smart Service Welt und autonome Systeme setzen einen kulturellen Wandel in Gang, das betont Kagermann mehrfach: "Die Arbeitswelt wird sich extrem verändern, das klassische Arbeitsverhältnis wird verschwinden." Agile und flexible Fabriken und Serviceanbieter, durch die Plattform-Ökonomie vernetzt, brauchen agile Menschen. "Alles, was wir fördern, erfordert größere Selbstbestimmung, auch für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter."

Ängste und Sorgen

Kagermann sieht die Ängste angesichts Künstlicher Intelligenz, angesichts von Plattformen, die Daten sammeln und analysieren, angesichts von Maschinen, die immer mehr Arbeitsschritte übernehmen. Deswegen stellt er klar: Automatisierte Maschinen führen ein vorgegebenes Ziel nach genau vorgegebenen Schritten aus. Autonome Maschinen führen ein vorgegebenes Ziel aus, ohne die einzelnen Schritte vorgezeichnet zu bekommen. Aber: "Der Mensch setzt sich seine Ziele selber."

Er sieht auch die Sorgen, die durch die gesellschaftlichen Herausforderungen im Zuge des Kulturwandels entstehen: Menschen fürchten den Kontrollverlust, sie fürchten den Verlust ihrer gesellschaftlichen Teilhabe. "Eine große Sorge ist, dass die autonomen Systeme am Ende die Diener der Reichen sind." Auch Furcht vor dem Verlust von Arbeitsplätzen grassiert. "Das wird oft dramatisiert", kritisiert Kagermann.

Der ehemalige SAP-Chef betont die Vorzüge der Zukunftsprojekte Industrie 4.0, Smart Service Welt und autonome Systeme: Immer stehe der Mensch im Mittelpunkt, er solle nicht ersetzt werden. "Wir wollen nur verbessern und ergänzen."