Das schwierige Verhältnis von Gehirn und Bewusstsein

30. Juni 2016

Zum Finale seiner Vorlesungsreihe "Psychologie und Gehirn: Zur Innenansicht des Menschen" hatte Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Onur Güntürkün als Inhaber der Johannes Gutenberg-Stiftungsprofessur 2016 einen höchst prominenten Kollegen eingeladen: Der Neurophysiologe Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Wolf Singer sprach im größten Hörsaal der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) zum Thema "Gehirn und Bewusstsein – ein schwieriges Verhältnis".

"Das, was ich heute erklären soll, gehört eigentlich nicht zu den erklärbaren Phänomenen", kündigt Prof. Dr. Dr. h.c. mult.Wolf Singer zu Beginn seines Vortrags an. Kurz zuvor bereits hatte der Gutenberg-Stiftungsprofessor Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Onur Güntürkün eingeräumt: "Ich habe mich nicht getraut, dieses schwierige, komplexe Thema anzupacken." Also setzte er sich an den Computer und verfasste die Einladung an den renommierten Kollegen. "Ich habe die E-Mail mit zitternden Fingern geschrieben", erinnert sich Güntürkün. Schnell kam die Antwort: Ja, Singer würde gern nach Mainz kommen.

Im letzten Teil der Stiftungsprofessur-Vorlesungsreihe "Psychologie und Gehirn: Zur Innenansicht des Menschen" sollte es um die neuronalen Grundlagen des Bewusstseins gehen. Wie immer war der größte Hörsaal auf dem Gutenberg-Campus übervoll, wie immer wurde die Veranstaltung nach draußen übertragen und wie immer wurde Güntürkün beim Betreten des Saals mit rauschendem Applaus empfangen. Es hat sich eine herzliche Beziehung entwickelt zwischen dem Biopsychologen und seinem Mainzer Publikum. "Eine denkwürdige Vorlesungsreihe neigt sich ihrem Ende zu", eröffnete JGU-Präsident Prof. Dr. Georg Krausch den Abend.

Beschränktes Gehirn

"Wir können nur erkennen, was die kognitiven Leistungen unserer Gehirne zu erfassen erlauben", skizziert Singer die Ausgangssituation. Das menschliche Hirn ist in einem evolutionären Prozess entstanden. Es ist auf den winzigen Ausschnitt der Welt geeicht, den wir wahrnehmen. "Es ist nicht darauf ausgelegt, absolute Wahrheiten zu erkennen, sondern es soll uns ermöglichen, zu überleben und uns fortzupflanzen." Das sind keine guten Voraussetzungen, um Singers Thema zu durchdringen. Dennoch will er das schwierige Verhältnis von Gehirn und Bewusstsein zumindest umkreisen.

Er beginnt mit dem, was wir gut verstehen. Die Struktur, die Chemie, die Funktionen der Bausteine des Gehirns sind bekannt. Die Architektur neuronaler Schaltungen, selbst die neuronalen Grundlagen einfacher Verhaltensleistungen sind erforscht. Aber wie sind die Wechselwirkungen zwischen den Neuronen kodiert? Wie entstehen Gefühle, Bewusstsein, Wille? "Die zentralen Probleme sind die ungeheure Komplexität dieser Wechselwirkungen und die Emergenz von Eigenschaften, die aus der Kenntnis der einzelnen Komponenten des Gehirns nicht ablesbar sind."

Singer fragt: "Wie kommt es, dass wir die Welt wahrnehmen?" Auf die Netzhaut des Auges prasseln Reize verschiedenster Wellenlängen ein. Das Gehirn ist in der Lage, diese Reize zu ordnen. Es fasst zusammen, was zusammengehört, und trennt, was eben nicht zusammengehört. "Es gibt eine Diskrepanz zwischen dem, was wir uns vorstellen, was dabei in unserem Kopf vorgeht, und dem, was tatsächlich passiert. Die Vorstellung ist, dass es irgendwo im Hirn eine Zentrale, eine autonome Instanz geben muss, die Entscheidungen trifft."

Nirgends ein Kern

Das ist ein Trugschluss. "Es gibt keine übergeordnete Instanz, keinen Beobachter, keinen Entscheider." Stattdessen ist alles vernetzt. Neuronen sind über Milliarden von Synapsen miteinander verbunden, Hirnareale tauschen sich auf höchst komplexe Weise aus. Nirgends ist ein Kern auszumachen oder ein Mittelpunkt, alles ist im Fluss.

"Was passiert, wenn ich vor einem bellenden Hund sitze, um ihn zu streicheln? Die verschiedenen Aspekte des Hundes werden abgearbeitet." Das Bellen, das über das Gehör zu vernehmen ist, wird vom Gehirn dechiffriert, der optische Eindruck des Tieres ebenfalls. Erfahrungswerte werden herangezogen: Ist es sinnvoll, dieses bellende Geschöpf zu streicheln? "Wo in diesem System findet sich der Hund? Er findet sich in einer sehr komplexen, raumzeitlich strukturierten Wolke aus neuronalen Aktivitäten. Mehr ist es nicht."

Solche Wolken bildet das Gehirn ständig – und zwar mehrfach. Die große Leistung besteht darin, diese Wolken auseinanderzuhalten, zu differenzieren: Das ist der Hund, da steht ein Stuhl. Aber eben auch, Dinge zusammenzudenken. "Neuronen, die semantisch Verbundenes repräsentieren, koordinieren ihre Aktivität." Sie schalten sich synchron, feuern in einem ganz speziellen Zeitfenster. So trennt sich eine Wolke deutlich von der anderen.

Suche nach Freiheit

"Wo aber bleibt die Freiheit in so einem System?", ist da Singers logische nächste Frage. Wahrnehmungen, Gedanken, Gefühle, Entscheidungen werden auf Basis neuronaler Ensembles erzeugt. Der Mensch ist es gewohnt, linear zu denken, das hat sich bewährt im Überlebenskampf. Eins folgt aufs andere und so folgt auch auf einen Zustand im Hirn ein ganz bestimmter anderer Zustand. Hier findet sich keine Freiheit. Das bestimmen die Naturgesetze.

"Aber es stimmt natürlich nicht, dass wir es beim Gehirn mit einem linearen System zu tun haben", betont Singer. Das Gehirn ist ein dynamisches neuronales Netzwerk und hochgradig nichtlinear. "Trotz der Determiniertheit von Folgezuständen sind längerfristige Entwicklungen grundsätzlich nicht voraussagbar."

Der Neurophysiologe überträgt das auch auf die Gesellschaft, auf Handelsbeziehungen etwa, auf politische Prozesse. Viele Menschen betrachten sie als lineare, vorhersagbare Systeme, tatsächlich sind sie nicht linear. Niemand könne wissen, was etwa im Fall des aktuell diskutierten Brexit passiert. "Über solche Dinge sollten sich Politiker klar sein. Dann würden sie nicht so viele Wahlversprechen machen."

Körper und Geist

Grundsätzlich gilt für Singer: Selbst noch so komplizierte kognitive Prozesse beruhen auf materiellen Vorgängen, auf Naturgesetzen, auch das Bewusstsein. Nichts irgendwie Immaterielles spielt hinein, die Sicht von einer Dichotomie von Körper und Geist ist überholt. Werte oder Glaubenssysteme sieht er als "soziale Realitäten, die wir in die Welt gebracht haben". Vereinfacht formuliert sind sie aus der gegenseitigen Wahrnehmung der Menschen entstanden, wurden gelernt, haben im Hirn ihren materiellen, also neuronalen Niederschlag gefunden und wirken so fort.

Auch die Dichotomie zwischen Kultur- und Naturwissenschaften ließe sich nach Singer mit dieser Sichtweise endlich überwinden. "Das wünsche ich noch zu erleben, weil ich die Streitereien mit den Philosophen satt bin."

Lebhaft diskutierte Singer seine Thesen mit dem Publikum. Doch dann ging es an die Verabschiedung des diesjährigen Johannes Gutenberg-Stiftungsprofessors. "Es war ein fantastisches Gefühl, in den vergangenen Wochen hier zu sein", resümierte Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Onur Güntürkün. "Sie sind ein überwältigendes Publikum." Dieses Publikum tat zum Schluss noch mal sein Bestes und erhob sich, um minutenlang stehend zu applaudieren.