Vom Parasiten zum Puppenspieler

25. Juni 2015

Ein Parasit manipuliert seinen Wirt: Wenn der Bandwurm Anomotaenia brevis sich in Ameisen einnistet, verändert sich nicht nur deren Aussehen, sondern ihr gesamtes Verhalten. Sara Beros, Doktorandin am Institut für Zoologie der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU), untersucht dieses Wechselspiel seit Jahren.

Ameisenstaaten umfassen Zehntausende, Hunderttausende, manchmal Millionen von Tieren, die in Superkolonien weite Regionen besiedeln – oder sie residieren ganz unauffällig in einer hohlen Eichel, in einem Stückchen Holz, in einem winzigen Hohlraum. "Ich habe uns ein Nest mitgebracht", sagt Sara Beros. Zwischen Daumen und Zeigefinger hält sie ein flaches Plastikrechteck, das sich problemlos auf den Objektträger eines Mikroskops spannen ließe.

Eine ovale Vertiefung im weißen Kunststoff dient als künstliche Behausung für die Ameisenart Temnothorax nylanderi. Die Abdeckung des Nests ist durchsichtig. Das Treiben der Tiere ist problemlos zu beobachten. "Das da ist die Königin." Beros deutet auf eine vielleicht vier Millimeter große Ameise. Die Arbeiterinnen, die um ihre Königin herumwuseln, sind halb so groß. 30, 40 Tiere zählt diese Kolonie. Die Mehrheit ist braun gefärbt, doch dazwischen bewegen sich merkwürdig blasse Tiere. Sie wirken träger als ihre Artgenossinnen. Sie sind anders, das ist nach wenigen Sekunden zu erkennen. "Das sind die Infizierten."

Von Spechten und Ameisen

Beros arbeitet in der Abteilung Evolutionsbiologie von Prof. Dr. Susanne Foitzik am Institut für Zoologie der Johannes Gutenberg-Universität Mainz an ihrer Promotion. Ihr großes Thema sind die Parasiten sozialer Insekten. Sie untersucht, auf welche Weise solche Parasiten ihre Wirte manipulieren. "Das beschäftigt mich seit meiner Bachelorarbeit", erzählt sie.

Temnothorax nylanderi ist der ideale Proband für ihre Forschung. Die Insekten sind klein, sie bilden keine riesigen Staaten und sind einfach zu halten. Davon abgesehen leben sie nicht allzu weit vom Gutenberg-Campus, nämlich im Gonsenheimer Lennebergwald. "Wenn ich dort einen Nachmittag suche, komme ich mit 20, 30 Völkern wieder."

Die Ameisen sind Zwischenwirte des Bandwurms Anomotaenia brevis. Dessen Eier schleppen die Arbeiterinnen mit dem Kot von Spechten in ihr Nest. Den Kot verfüttern sie an die Ameisenlarven. Die Bandwurmlarven nisten sich im Hinterleib der heranwachsenden Ameisen ein. Beros zeigt eine Mikroskopaufnahme: Die Bandwurmlarven wirken wie aufgequollene Reiskörner. "Ihre Körper sind eingerollt und von einer Schutzhülle umgeben." Diese Schutzhülle löst sich erst auf, wenn Anomotaenia brevis in den Darm eines Spechts gelangt. Dort wächst die Bandwurmlarve zum adulten Bandwurm heran und produziert wieder neue Eier, die der Specht über seinen Kot ausscheidet.

"Im Lennebergwald sind ungefähr 30 Prozent der Ameisennester vom Bandwurm befallen. Vor Jahren war schon bekannt, dass sich die infizierten Ameisen anders verhalten. Wir konnten nun genau dokumentieren, welche Verhaltensweisen sich mit dem Befall ändern." Hier setzen Beros und mit ihr die Arbeitsgruppe um Foitzik an.

Im Kopf der Ameise

"Durch Verhaltensversuche konnten wir nachweisen, dass die helleren, gelblichen Tiere tatsächlich inaktiver sind als ihre gesunden Artgenossen." Beros hat das Ameisennest vor sich auf den Tisch gelegt. Durch einen winzigen Gang findet immer mal wieder eine Arbeiterin nach draußen, dreht ein paar Runden und kehrt zurück. Doch es sind nur die dunklen Tiere, die diese Ausflüge wagen. Nicht eines der blasseren Insekten entschließt sich dazu.

"Sie sind nicht nur träge, sie beteiligen sich auch nicht an den Aufgaben im Nest, werden aber von ihren Artgenossinnen akzeptiert. Wenn wir kranke Tiere in ein Nest zu gesunden setzen, verhalten sich auch die gesunden Arbeiterinnen anders: Sie sind weniger aggressiv. Es könnte sein, dass die gelben Arbeiterinnen einen Stoff absondern, der signalisiert: Ich bin krank, passt auf mich auf."

Beros und ihre Kollegen schauen den Ameisen in den Kopf – buchstäblich. "Wir haben die Genexpression im Gehirn untersucht." Die Gene eines Lebewesens müssen gelesen werden, um zu wirken. Wird ein Gen abgelesen, kommt es zur Produktion von bestimmten Proteinen. Mal geschieht das sehr intensiv, mal geschieht es weniger oder auch gar nicht. Nachweisen lässt sich das an der Konzentration der Proteine. Präziser aber ist es, die Konzentration der Boten-RNA, die das Gelesene übermittelt, zu untersuchen.

Kranke Arbeiterinnen leben länger

"Wir konnten hier nachweisen, dass sich die gelben Ameisen bei knapp 200 Genen von den gesunden unterscheiden." Einige Gene sind für das bereits angesprochene träge Verhalten verantwortlich. Weitere lassen die erkrankten Ameisen länger leben und andere sorgen dafür, dass sich die Muskeln der kranken Ameisen schwächer entwickeln. All das scheint die Bandwurmlarve irgendwie auszulösen. "Der Parasit ist wie ein Puppenspieler. Er zieht im Hintergrund die Fäden."

Wieder liefert Beros Aufnahmen vom Mikroskop: Links ist der Kopf einer infizierten Ameise mit ihren Mundwerkzeugen abgelichtet, rechts der einer gesunden. "Sie können bei der gelben Ameise einzelne Stränge der Mandibelmuskeln unterscheiden." Die Muskelfasern sind ausgedünnt. "Rechts sehen Sie eine homogene, geschlossene Struktur." Das sind gesunde, starke Muskeln.

Von Temnothorax nylanderi kommt Beros wieder zum Specht. "Eine einzelne Ameise ist für den Vogel als Nahrung uninteressant. Aber wenn er auf ein ganzes Nest stößt, frisst er die gesamte Kolonie. 200 Arbeiterinnen und Larven sind schon was Leckeres."

Für den Bandwurm ist es also nützlich, wenn möglichst viele infizierte Ameisen zuverlässig im Nest bleiben, deswegen die Inaktivität und die schwächeren Muskeln. Der Nutzen des langen Lebens liegt auf der Hand: Infizierte Ameisen stehen länger als potenzielle Nahrung zu Verfügung.

Von Ameisen infiziert

Manches ist noch Spekulation, noch sind die Kausalketten nicht zu Ende geknüpft. So ist nicht sicher, ob die schwächere Ausprägung der Ameisenmuskeln direkt vom Parasiten über die Genexpression gesteuert oder indirekt verursacht wird, etwa dadurch, dass die Ameise inaktiver ist. Doch das System ist klar, der Puppenspieler und viele seiner Fäden liegen offen.

Zwei Jahre noch wird Sara Beros für ihre Doktorarbeit forschen. "Am Anfang meines Studiums war gar nicht klar, dass Ameisen eine so große Rolle spielen werden." Doch mittlerweile ist sie tief drin im Thema. "Unseren Studierenden geht es immer wieder ganz ähnlich. Zuerst sind ihnen die Tiere nicht geheuer. Es kann ja durchaus mal passieren, dass einem ein paar Dutzend den Arm hoch krabbeln. Aber wenn sie sich länger mit ihnen beschäftigen, sind sie fasziniert", berichtet Beros, die als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Zoologie selbst Studierende betreut.

Beros nimmt das Nest hoch. Eine dunkle Ameise krabbelt noch über den Tisch. Beros stippt sie wie einen Brotkrümel mit dem Zeigefinger auf und setzt sie zu den anderen. Dann deckt sie ein dunkles Stück Pappe übers Nest: Nun ist Nacht, Temnothorax nylanderi bekommt seine verdiente Ruhe.