SchUM-Stätten zum UNESCO-Welterbe ernannt

16. November 2021

Die jüdischen Gemeinden in Speyer, Worms und Mainz schlossen sich im Mittelalter zum Bund der SchUM-Städte zusammen. Kultur und Religion blühten auf. In diesem Jahr erklärte die UNESCO die Zeugnisse dieses bedeutenden Zentrums jüdischen Lebens zum Welterbe. Prof. Dr. Andreas Lehnardt von der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) wirft einen Blick auf die SchUM-Geschichte und auf das deutsch-jüdische Verhältnis.

Zwei große Banner hängen seit einiger Zeit an einem Zaun in unmittelbarer Nähe des Mainzer Hauptbahnhofs. "Mazel tov! Wir sind UNESCO-Welterbe" steht auf dem einen zu lesen. Dahinter ragen Grabmäler aus grauem und rotem Stein aus dem Gras, viele stark bemoost, oft mit nur noch schwer lesbaren hebräischen Inschriften. Das zweite Banner informiert darüber, was wahrscheinlich Tausende Menschen täglich übersehen, wenn sie auf der vielbefahrenen Mombacher Straße an diesem Hanggrundstück vorbeirauschen: "Alter jüdischer Friedhof Mainz – SchUM-Stätten Speyer, Worms, Mainz – Jüdisches Erbe für die Welt".

Der Mainzer Judensand gilt als der älteste jüdische Friedhof Europas, ein Grabstein datiert auf das Jahr 1049. Dieser Friedhof wurde nicht allein zum UNESCO-Welterbe ernannt, sondern fügt sich als bedeutendes Zeugnis zwischen die Gebäudeensembles im Herzen von Speyer und Worms ein. Dort blieben unter anderem mittelalterliche Synagogen sowie Ritualbäder, die Mikwen, und in Worms ein weiterer sehr alter Friedhof erhalten. Im Jüdischen heißen die drei Städte Schpira, Warmaisa und Magenza, nach ihren hebräischen Anfangsbuchstaben kurz SchUM genannt. Ihre Gemeinden hatten sich zu einem Verbund zusammengeschlossen, der eine ungeheure Strahlkraft entwickelte: Bis heute ist er Juden weltweit ein Begriff. SchUM prägte ihre Kultur und ihre Religion.

Mainz als günstiger Ort für Judaistik

Vom Judensand sind es zu Fuß nur wenige Minuten ins Büro von Professor Lehnardt, seit 2004 Professor für Judaistik an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der JGU. "Leider gibt es im Mainzer Stadtgebiet nicht viel aus der jüdischen Geschichte zu sehen", bedauert er. Speyer und Worms hätten da mehr zu bieten. "Umso wichtiger sind die reichen schriftlichen Zeugnisse, die uns überliefert sind", meint er mit einem Blick auf seinen Schreibtisch: Dort liegen einige mächtige Bücher. Er greift ein Exemplar heraus, das im 16. Jahrhundert in Venedig gedruckt wurde. Bereits beim flüchtigen Durchblättern fallen immer wieder geschwärzte Passagen auf. "Hier war die Zensur am Werk. Oft wurden für solche Arbeiten jüdische Konvertiten engagiert, die des Hebräischen mächtig waren."

1955 wurden der Evangelisch-Theologischen Fakultät die Reste der jüdischen Gemeindebibliotheken aus Mainz als Leihgabe anvertraut. Sie umfassen rund 5.500 Bände. Die ältesten Bücher stammen aus dem 9. Jahrhundert. "Wir dürfen sie verwalten und erforschen", erzählt Lehnardt. "Mainz ist ein günstiger Ort für die Judaistik. Es gibt so viele Quellen vom Mittelalter bis zur Gegenwart, und der Friedhof bietet einen großartigen Überblick über jüdische Geschichte in Deutschland."

Lehnardt könnte viel erzählen über SchUM. Doch er beschränkt sich auf einige wenige Schlaglichter. Schließlich möchte er auch noch einen Blick auf die Gegenwart, auf das deutsch-jüdische Verhältnis heute werfen. Dass der Gemeindebund anlässlich der Ernennung zum UNESCO-Welterbe in den Medienberichten gern "Jerusalem am Rhein" genannt wird, amüsiert ihn eher. Von einer "Aura" sei dort auch die Rede. "SchUM ist aber viel mehr als nur eine Aura. Eine Aura lässt sich nicht greifen, ist nichts Konkretes, SchUM schon."

Der Gemeindebund brachte große Gelehrte hervor. Gerschom ben Jehuda etwa, geboren im Jahr 960: Er etablierte die Mainzer Talmud-Akademie und galt seinen Zeitgenossen als "Leuchte des Exils". "Mit seinem Namen ist die Abschaffung der Mehrehe und die Einführung des Briefgeheimnisses verbunden." Rabbi Salomon ben Isaak, genannt Raschi, wirkte im 11. Jahrhundert vor allem in Worms. "Seine Kommentare zur Bibel und zum Talmud haben bis heute Gültigkeit. Ohne ihn ist der Talmud gar nicht zu verstehen, und auch christliche Gelehrte haben ihn oft zitiert."

Heute fehlen alltägliche Begegnungen

Die Juden wurden im Mittelalter von den Mächtigen in die Städte geholt. Man versprach sich eine Belebung der Wirtschaft. Unter anderem handelten sie jene Geldgeschäfte ab, die den Christen untersagt waren. "Viele arbeiteten als Ärzte. Sie brachten altes Wissen aus dem Griechischen über das Arabische zu uns." SchUM etablierte sich als kulturelles Zentrum: Die Architektur der Synagogen, der Schulen und Mikwen wurde weit über die Region hinaus stilprägend. Jüdische Kultur blühte auf und entwickelte sich.

Zugleich waren die SchUM-Gemeinden Ziel von Pogromen und Gewalttaten. Christen ermordeten Juden und zerstörten ihre Lebensgrundlagen. Die Familie des Wormser Gelehrten Eleasar ben Juda ben Kalonymos fiel der aufgeheizten Stimmung der Kreuzzüge zum Opfer: 1196 wurden seine Frau und seine beiden Töchter umgebracht. "Kalonymos verfasste ein berühmtes Klagelied, das bis heute in den Synagogen zu hören ist", erzählt Lehnardt. Immer wieder gab es Verfolgungen. Um 1350, in Zeiten der Pest, traf es den Bund hart: Die drei jüdischen Gemeinden wurden zerstört. Der Wechsel zwischen Blüte und Verfolgung prägte den Bund über die Jahrhunderte.

Der Holocaust, die systematische Vernichtung der Juden im Herrschaftsraum Nazi-Deutschlands, beendete auch das jüdische Leben in der Region. Der seit der Aufklärung beschleunigte gesellschaftliche Austausch, der Weg hin zur Gleichberechtigung, fand ein jähes Ende. Angesichts dieser Zäsur verblasst alles Dagewesene.

"Was uns heute in Deutschland fehlt, ist die alltägliche, ganz selbstverständliche Begegnung mit Juden", meint Lehnardt. Sicher gebe es wieder jüdische Gemeinden, die auch mal ins Rampenlicht träten. Doch es mangele an Berührungspunkten. "Unser Verhalten Juden gegenüber ist nicht so normal, wie es zu Zeiten der SchUM-Städte war. Damals gab es nachbarschaftliche Beziehungen und enge Freundschaften. Man trank zusammen – zwar keinen Wein, aber Bier: Das war kein Problem."

SchUM-Professur würde sich lohnen

In der Bundesrepublik sieht er auf der einen Seite den weiterhin grassierenden Antisemitismus. "Er ist wie ein Virus, das in der Bevölkerung immer wieder aufflammt und sich nicht ausrotten lässt", meint er bedauernd. Auf der anderen Seite macht er einen übertriebenen Philosemitismus aus. "Man stellt die Juden auf einen Sockel und zeichnet ein ideales Bild von Ihnen, dem sie unmöglich gerecht werden können." Auch die Rolle der christlichen Kirchen sieht er kritisch. Es habe viel zu lange gedauert, bis man sich durchringen konnte, im Judentum eine Art ältere Geschwisterreligion zu sehen. "Wir sind weit von einer Normalität entfernt", meint er zusammenfassend.

Forschungsaufenthalte führen Lehnardt Jahr für Jahr nach Israel. Er schätzt nicht nur den wissenschaftlichen Dialog, sondern auch die Tuchfühlung mit den Menschen. "Während der Corona-Pandemie fiel das bisher leider aus. Ich kann kaum sagen, was das für mich bedeutet." Er bemüht sich auch, seinen Studierenden den direkten Austausch mit jüdischen Studierenden oder Forschenden zu ermöglichen, die er gern nach Mainz einlädt.

Die Ernennung der SchUM-Stätten zum UNESCO-Welterbe sieht Lehnardt als sehr positives Zeichen. "Es hat mich gefreut, auf welch breite Zustimmung sie in der Bevölkerung stößt. Die Mainzer freuen sich und sind stolz. Der Oberbürgermeister ließ sofort die beiden Banner am Friedhof aufspannen." Sogar für Lehnardts Forschung zahlten sich die Bemühungen um den Welterbe-Titel aus. "Ich konnte für zwei Jahre über Drittmittel eine Stelle finanzieren, um Teile unserer jüdischen Gemeindebibliotheken zu digitalisieren, und im Moment sitze ich an einem zweiten Antrag." Weitere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter könnte er gut gebrauchen. "Teile des Mainzer Judensands sind noch gar nicht erforscht." Zudem böten 1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland so viele Aspekte, so viele unterschiedliche Facetten, dass sie sich unmöglich über eine einzelne Professur ausloten ließen. Er würde sich weitere Lehrstühle in der Mainzer Judaistik wünschen. "Vielleicht wäre ja auch einer zu SchUM dabei", meint Lehnardt. "Es würde sich lohnen."