Mehr Aufmerksamkeit für vernachlässigte Tropenkrankheiten

8. Oktober 2020

Über eine Milliarde Menschen weltweit leiden an verheerenden Tropenkrankheiten, die bis heute nur unzureichend erforscht wurden. Die Biochemikerin Prof. Dr. Ute Hellmich sucht nach neuen therapeutischen Ansätzen für einige dieser vernachlässigten Tropenkrankheiten. Ihre Arbeitsgruppe nutzt hierfür strukturbiologische Ansätze und beschäftigt sich mit drei verwandten Parasiten, die das Chagasfieber, die Afrikanische Schlafkrankheit und Leishmaniose verursachen.

"Es ist wichtig, dass die vernachlässigten Tropenkrankheiten mehr Aufmerksamkeit bekommen", sagt Prof. Dr. Ute Hellmich von der Ateilung Biochemie am Department Chemie der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU). Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) fasst unter dem Begriff der "Neglected Tropical Diseases" 20 Erkrankungen zusammen, darunter Lepra, das Denguefieber, Elefantiasis, Leishmaniose, das Chagasfieber und die Afrikanische Schlafkrankheit. "Über eine Milliarde Menschen leiden darunter und unbehandelt verlaufen diese Krankheiten oft tödlich. Ich glaube, wir im Westen, ob in Europa oder in Nordamerika, vergessen, wie glücklich wir sein können, dass die Erreger solcher Krankheiten wegen unseres milden Klimas hierzulande nicht übertragen werden." Momentan trifft es vor allem Menschen, die in den Tropen und dort in großer Armut und schlechten sanitären Verhältnissen leben.

"Durch die Erderwärmung kommen diese Krankheiten allerdings allmählich auch zu uns", gibt Hellmich zu bedenken. "Ich erinnere mich, wie ich vor drei Jahren das erste Mal eine Tigermücke auf unserem Campus sah." Das Insekt gilt unter anderem als Überträger des Denguefiebers: Die WHO schätzt die jährlichen Infektionen auf knapp 400 Millionen, die Kindersterblichkeit ist hoch. "Im Grunde stehen die vernachlässigten Tropenkrankheiten bereits vor unserer Haustür", bekräftigt Eric Schwegler. "Einerseits werden die Krankheiten von Reisenden und Einwanderern aus Krisengebieten eingeführt. Auch die Einfuhr von infizierten Hunden führt zu Problemen: In vielen europäischen Hundezwingern kam es zum Beispiel bereits zu Ansteckungen mit Leishmaniose. Andererseits kommt es im Mittelmeerraum seit Jahren verstärkt zu Leishmaniose-Infektionen, ohne dass der Patient in ein klassisches Krisengebiet gereist ist. Die Tropenkrankheit ist dort bereits fest etabliert."

Drei hoch effiziente Parasiten

Schwegler arbeitet an einer Dissertation über die vernachlässigten Tropenkrankheiten, speziell über Krankheiten, die von Parasiten aus der Familie Trypanosomatida verursacht werden. Hierzu zählen die Afrikanische Schlafkrankheit, das Chagasfieber, das in Süd- und Lateinamerika endemisch ist, und die Leishmaniose, die fast weltweit verbreitet ist. Er schaut dabei nicht nur auf biochemische Vorgänge, sondern nimmt auch gesellschaftliche Aspekte unter die Lupe. "Viele Tropenkrankheiten führen zur Entstellung des Patienten – etwa durch die Bildung von Ödemen oder die Zersetzung einzelner Hautpartien im Gesicht. Dies führt oftmals zur gesellschaftlichen Stigmatisierung der Betroffenen. Derlei Aspekte wurden in der medizinischen Forschung, besonders im Hinblick auf vernachlässigte Tropenkrankheiten, bis heute oftmals nur unzureichend erläutert." Diesen doppelten Ansatz verfolgt Schwegler als Mitglied des Graduiertenkollegs "Life Sciences – Life Writing: Grenzerfahrungen menschlichen Lebens zwischen biomedizinischer Erklärung und lebensweltlicher Erfahrung", das – gefördert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) – Forscherinnen und Forscher aus den Geistes- und Lebenswissenschaften unter der Sprecherschaft von Prof. Dr. Mita Banerjee vom Department of English and Linguistics der JGU und Prof. Dr. Norbert W. Paul vom Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der Universitätsmedizin Mainz zusammenbringt.

Der Biochemiker Eric Schwegler gehört zu Hellmichs Arbeitsgruppe Biochemie am Department Chemie der JGU. Sie betreut seine Dissertation. Seit der Etablierung ihrer Arbeitsgruppe in Mainz im Jahr 2015 rief Hellmich mehrere Forschungsprojekte ins Leben, die sich mit den angesprochenen Trypanosomatiden beschäftigen. Ihre Vorhaben werden von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und seit 2020 durch einen Exploration Grant der Boehringer Ingelheim Stiftung gefördert, eine mit 80.000 Euro dotierte Auszeichnung, die exzellente junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit neuen, außergewöhnlichen Ansätzen in Wissenschaft und Forschung unterstützen soll.

"Tropenkrankheiten werden unter anderem von Bakterien, Viren oder Parasiten verursacht, die durch Insekten auf Menschen und Tiere übertragen werden", erklärt Schwegler. "Parasiten sind für uns eine besondere Herausforderung, weil sie Millionen von Jahren Zeit hatten, sich gezielt an ihren Wirt anzupassen. Das macht es schwierig, den Parasiten im Patienten selektiv zu bekämpfen. Wir konzentrieren uns auf drei parasitäre Krankheitserreger, die miteinander verwandt sind, und hoffen, unsere bisherigen Erkenntnisse auf weitere Parasiten übertragen zu können – also mehrere Fliegen mit einer Klappe zu schlagen." Schwegler präsentiert eine Karte mit eingefärbten Ausbreitungsgebieten: Trypanosoma cruzi verursacht die Chagaskrankheit in Süd- und Mittelamerika bis hinauf in Teile der USA, Trypanosoma brucei die Afrikanische Schlafkrankheit im Tropengürtel Afrikas und Leishmania die Leishmaniose in Südasien, in Nordostafrika und im Süden Europas.

"Das Chagasfieber ist hier in Europa kaum jemandem eine Begriff", so Schwegler. "Aber in São Paulo muss man niemandem erklären, warum man Chagas erforscht. Die Chagaskrankheit füllt dort ganze Krankenhausflügel. Jede und jeder dort kennt jemanden, der Chagas hat." Derzeit leiden laut WHO rund 7 Millionen Menschen an Chagas – im Jahr 2016 starben laut WHO 7.700 Infizierte, die Dunkelziffer liegt wahrscheinlich deutlich höher.

One World, One Health – Eine Welt, eine Gesundheit

Mit der Erforschung neuer therapeutischer Ansätze ist es allerdings so ein Problem. Schon der Name sagt es schließlich: Diese Tropenkrankheiten wurden und werden sowohl gesellschaftlich als auch in der Forschung oft vernachlässigt. Dies äußert sich besonders in den verheerenden Nebenwirkungen der wenigen Medikamente, die auf dem Markt sind. "Viele Arzneistoffe sind extrem toxisch für den Patienten und außerdem für viele kaum bezahlbar. Bei der Arzneistoffentwicklung kommt es darauf an, ob die Patienten im Fokus der Gesellschaft stehen – und wenn ja: Welcher Gesellschaft?", so Schwegler. "Wer ist betroffen? Ist es eine Schicht, die sich Medikamente leisten kann? Kann die Gesellschaft es sich leisten, diese Schicht zu vernachlässigen?" – "Das emotionale Gewicht ist nicht äquivalent mit den Betroffenenzahlen", meint Hellmich. "In die Bekämpfung von HIV, Tuberkulose und Malaria zusammen wurde etwa zwanzigmal mehr Geld gesteckt als in die Bekämpfung dieser Tropenkrankheiten."

Hellmich fragt sich, ob die Corona-Pandemie hier vielleicht zu einem Umdenken führen könnte: "Sie zeigt uns gerade, dass wir gut daran tun, nach dem Prinzip 'One World, One Health' zu handeln. Sicher, im Moment scheint es so, als wären die Tropenkrankheiten im Gegensatz zu COVID-19 lokal gebunden, aber wir sehen ja, wie schnell sich das ändern kann." Dass sie für ihre Projekte sowohl die Unterstützung verschiedener Geldgeber wie der Boehringer Ingelheim Stiftung als auch des Graduiertenkollegs "Life Science – Life Writing" gewinnen konnte, freut sie nicht nur, Hellmich ist sogar ein wenig überrascht von der großen Bereitschaft, sich dieses Themas anzunehmen. "Wir haben außerdem Kollaborationen mit Arbeitsgruppen der Pharmazie und der Organischen Chemie. Das bringt uns entscheidend voran."

Essenzielle Enzyme als therapeutische Angriffspunkte

Ausgangspunkt von Hellmichs und Schweglers Forschung war Trypanosoma brucei, der Parasit, der die Afrikanische Schlafkrankheit verursacht. "Wir interessieren uns für ein essenzielles Enzym dieses Einzellers, das in Menschen und Tieren nicht vorkommt: Tryparedoxin", erklärt Schwegler. "Das Enzym schützt den Parasiten vor oxidativem Stress und begünstigt seine Vervielfältigung. Wenn wir das Enzym lahmlegen, stirbt der Parasit." Schwegler arbeitete bereits im Rahmen seiner Masterarbeit in der Arbeitsgruppe Hellmich in Kollaboration mit Prof. Dr. Till Opatz und dessen Masterstudenten Marco Preuß aus der Organischen Chemie der JGU an der Optimierung eines bekannten Inhibitors. In einem weiteren Schritt geht es nun darum, die gewonnen Erkenntnisse auf die verwandten Parasiten Trypanosoma cruzi und Leishmania zu übertragen.

"Es passiert immer wieder, dass Medikamente zufällig entdeckt werden", meint Schwegler. Nicht selten bleibe es ein Rätsel, warum oder wie ein Stoff genau wirkt, und neben dem erfreulichen Effekt stellten sich häufig auch unliebsame Nebenwirkungen ein. Es sei wie ein Schuss ins Dunkel. "Wir dagegen schaffen ein rationales Design auf strukturbiologischer Basis. Wir wollen die Vorgänge wirklich verstehen und zielsicher handeln." – "Um unsere Chancen zu verbessern, den Parasiten lahmzulegen und seine Biochemie besser zu verstehen, beschränken wir uns bei unserer Forschung nicht nur auf Tryparedoxin, sondern untersuchen auch noch weitere Proteine, die zwar für die Parasiten essenziell sind, im Menschen jedoch entweder gar nicht vorkommen oder deutlich anders funktionieren oder aufgebaut sind", ergänzt Hellmich.

Bei der Erforschung vernachlässigter Tropenkrankheiten liegt der Fokus der Arbeitsgruppe allerdings nicht ausschließlich auf der praktischen Verwertung der Erkenntnisse. "Wir forschen auf dem Gebiet, weil wir diese Parasiten biochemisch hoch interessant finden. Sie sind ein spannendes Modellsystem der Zellbiologie", sagt Hellmich. "Wir betreiben Grundlagenforschung. Das heißt, wir können Dinge anschauen, ohne direkt einen Nutzen daraus zu ziehen. Das ist in gewisser Weise ein Luxus, den uns die Universität bietet. Aber genau das bringt die Wissenschaft nachhaltig voran."