Vom Kern der Dinge

2. November 2015

Das größte Exponat ist ein Pfirsichkern, daneben finden sich Getreidekörner, winzige Weintraubenkerne und die Samen von Wildkräutern: Auf den ersten Blick wirkt die Archäobotanische Vergleichssammlung des Arbeitsbereichs Vor- und Frühgeschichtliche Archäologie am Institut für Altertumswissenschaften der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) unscheinbar. Aber wenn Dr. Margarethe König von den Geschichten und der Geschichte dahinter zu erzählen beginnt, wird es interessant.

Besonders aufregend sehen diese dunklen Körnchen wirklich nicht aus, die Dr. Margarethe König da aus der Pappkiste mit der Nummer 8 zieht. In einem Plastiktütchen sind sie aufbewahrt, ein Aufkleber gibt Auskunft über die lateinische Bezeichnung: Vitis silvestris. Es sind Kerne der Wildrebe – und Traubenkerne wirken nun mal unscheinbar. Das ändert sich allerdings schnell, als die Botanikerin erzählt.

Dass die Römer den Weinbau nach Germanien brachten, ist bekannt. "Aber wurde der Wein als Pflanze über die Alpen gebracht oder wurde er aus hiesigen Wildreben nachgezüchtet? Wir hatten vor den Römern schon ein Wildvorkommen von Weinreben. Sie wuchsen allerdings wie Lianen in den Auwäldern." Die Trauben reiften in den Baumwipfeln. "Es war schwer, da heranzukommen. Außerdem waren die Früchte extrem klein und sauer."

Wahrscheinlicher also ist es, dass die Römer Reben importierten, dass sie ihre Kulturpflanzen peu à peu verbreiteten. "Aber über welche Route kamen die Reben zu uns? Über die Burgundische Pforte ins Moseltal? Das wäre gut vorstellbar."

4.000 Proben

König steht vor einem Schrank in ihrem Büro am Arbeitsbereich Vor- und Frühgeschichtliche Archäologie des Instituts für Altertumswissenschaften der JGU. Dieser Schrank enthält die gesamte Archäobotanische Vergleichssammlung des Instituts. "Das ist das Herz der archäobotanischen Arbeit", sagt sie. Auf den Tischen daneben stehen einige Mikroskope, unter deren Linsen selbst ein Traubenkern zur großen Sache wird.

Im Jahr 1986 begann die Forstwissenschaftlerin und Geobotanikerin mit dem Aufbau einer Archäobotanischen Forschungsstelle am Rheinischen Landesmuseum Trier. Sie wechselte dann 2006 als Akademische Direktorin nach Mainz. Die Samen, Kerne und Körner kamen mit. Auf rund 4.000 Proben ist ihre Sammlung mittlerweile angewachsen.

Dabei handelt es sich nicht etwa um Stücke aus vergangenen Epochen. König bezieht ihr Material aus Botanischen Gärten. Wenn sie einen Pfirsichkern zeigt – das größte Stück in der Sammlung –, dann stammt der mehr oder weniger aus der Gegenwart. "Das Aussehen der Kerne bleibt im Grunde gleich über die Jahrtausende", berichtet sie. "Nur die Größe verändert sich."

Einen Pfirsichkern von einem archäologischen Fundort kann König also mit ihren Kernen vergleichen, um die genaue Art zu ermitteln. Die Größe spielt nur eine Rolle, wenn es darum geht, wie effektiv die Landwirte damals den Pfirsich domestiziert haben. Die Römer waren da ganz vorn, ob beim Pfirsich, den sie auch in Germanien einführten, oder bei anderen Kulturpflanzen wie Getreide oder Hülsenfrüchten.

Fremde Früchte

"Die Römer brachten uns auch die Walnuss und die Esskastanie", führt König den Reigen der Importe fort. Und das war beileibe nicht alles. Die Botanikerin forschte am römischen Gräberfeld im Mainzer Stadtteil Weisenau. "Dort fanden wir Kerne von Oliven, Datteln und Feigen." Ein Anbau dieser Pflanzen ist wegen des Klimas nördlich der Alpen unmöglich oder zumindest sehr unwahrscheinlich. "Die Römer importierten das, was die Soldaten zu essen gewohnt waren. Denn nur mit einer trockenen Gerstengrütze konnten sie einem Legionär vom Mittelmeer nicht kommen."

In einem Römerlager bei Neuss fand man sogar Reiskörner. "Reis wurde damals nur in Indien angebaut." Es war mit einigem Aufwand verbunden, ihn nach Germanien zu schaffen. "Die Römer wussten aber: Wenn ich keine gut ernährten Soldaten habe, kann ich einpacken."

König forscht im Kleinen an großen Zusammenhängen. "Es geht darum, die Lebenswelt der Menschen ganzheitlich zu erfassen." Da helfen Samen, Körner und Kerne. Sie geben Auskunft, was gehandelt und was angebaut wurde. Sie erzählen, was auf den Tisch kam – und geben sogar Anhaltspunkte zum Migrationshintergrund der Menschen, die am Tisch saßen. Die Germanen an der Mainmündung werden gestaunt haben, welche Vielfalt exotischer Nahrungsmittel die Herren oben auf der Anhöhe in ihrem Legionslager konsumierten.

Feinste Strukturen

Selbst aus kleinsten Fragmenten lassen sich Informationen ablesen, allerdings nur mit viel Hartnäckigkeit. "Oft sind die Proben, die ich bekomme, verkohlt." Und ein Leinsamen platzt im Feuer auf wie Popcorn. "Dann ist die Form natürlich verändert." Aber die feine Oberflächenstruktur bleibt.

König zeigt einen Bildband des Niederländers Martinus Willem Beijerinck, ein Reprint einer Ausgabe von 1943. Das Buch ist voll mit Schwarzweißzeichnungen von Samen und Körnern. Selbst feinste Riefelungen sind hier zu erkennen. Im Regal stehen zwar moderne Nachschlagewerke mit digital aufbereiteten Fotos, mit Aufnahmen von Rasterelektronenmikroskopen, aber in Gebrauch ist vor allem der Band des alten Niederländers. "Wenn ich ein schwieriges Stück habe, zeichne ich es selber", so König. "Dann bin ich gezwungen, ganz genau zu beobachten."

Die Vielfalt in Königs Schrank ist erstaunlich. Nicht nur Kulturpflanzen finden sich hier. "Oft geben Wildkräuter mehr Auskunft als zum Beispiel Weizen oder Roggen. Die Felder in früheren Zeiten sahen nicht so uniform aus wie heute, sie waren viele stärker mit verschiedensten Pflanzen durchsetzt." Anhand ihres Vorkommens kann die Botanikerin Aussagen treffen zu Klima und Bodenqualität, aber auch über die Intensität des Anbaus.

Gerade hat sie eine Probe mit Gerstenkörnern aus dem saarländischen Otzenhausen in Arbeit. Die Körner sind 2.200 Jahre alt. "Wir haben sehr wenig Unkräuter darin gefunden." Offensichtlich wurde einiger Aufwand betrieben mit der Ernte. "Diese Qualität ist schon überraschend."

Geschichte des Getreides

Wenn es um Kerne und Körner geht, dann springt König im Gespräch förmlich durch die Themen und Epochen. Sie setzt ganz eigene Zäsuren in der Geschichte. Schon in der Steinzeit, so ein Beispiel, haben die Menschen das Risiko beim Anbau zu minimieren versucht. "Sie haben immer auf mehrere Arten gesetzt." In der Eisenzeit waren Gerste, Dinkel und Emmer die Hauptgetreide.

Die Römer trieben ihre Kulturpflanzen zu Höchstleistungen. Ihre Weizenkörner etwa waren groß. Wurden Sie dann kleiner mit dem Niedergang des Römischen Reichs, als die alten agrarischen Schriften in Vergessenheit gerieten? Nein, meint König. "Im Mittelalter wechselte man auf Roggen, der war anspruchsloser."

Die Archäobotanische Vergleichssammlung dient in erster Linie der Forschung. "Wir bieten aber auch Proseminare, Praktika und Fortbildungen an. Altertumsvereine fragen öfters an." Wer die Röhrchen und Briefchen mit den winzigen Samen, Kernen und Körnern das erste Mal sieht, könnte enttäuscht sein. Aber über diese Enttäuschung hilft König schnell hinweg. Der Blick auf die Kerne lohnt sich, wenn man nur genau hinschaut.