Kelchkrater

Ein attisch-rotfiguriger Kelchkrater des "Kertscher Stils"

Inv. 178 (1951 aus Sammlung Preyß erworben; Fundort unbekannt).
Höhe: 29,6 cm; Durchmesser der Mündung: 24,7 cm
Erhaltungszustand: Aus Fragmenten annähernd vollständig zusammengesetzt; diverse Fehlstellen und nachantike Ausbesserungen; kleines Loch an rundem Gegenstand auf Rückseite (evt. Luftblase beim Brand geplatzt); weiße Deckfarbe für Flügel des Greifen und für Mänade erhalten; gelbe Farbe für Binnenzeichnung rudimentär erhalten.
Einordnung: Athen, rotfigurig, um 350 v. Chr
.

Der Kratér war eine populäre und sehr vielfältige Gefäßform in der Antike. Kratere verschiedener Ausformungen gab es von der protogeometrischen Zeit bis zur späten rotfigurigen Malerei, also etwa vom 11. bis zum 4. Jahrhundert v.Chr. Sie bildeten für den Nutzer durch ihre vornehmliche Funktion als Mischgefäß für Wein und Wasser einen zentralen Bestandteil des Lebens und sind hauptsächlich im Bereich des Symposions, des antiken Festgelages, zu verorten.

Der Gefäßname leitet sich vom griechischen Wort kerannymi für "mischen" ab und erscheint in Schriftquellen, wie der Odyssee, im Zusammenhang mit dem Mischen von Wein und Wasser - beim Symposion wurde der Wein immer verdünnt getrunken. Darüber hinaus zeigen viele Darstellungen der Vasenmalerei Kratere als Weinmischgefäße zusammen mit dem Psykter, einer kugeligen Gefäßform mit zylindrischer Öffnung, die zur Kühlung des Weines mit Eis oder Schnee befüllt und in den Krater gegeben wurde. Andere Verwendungsformen wie die Nutzung als Grabbeigabe oder als Grabaufsatz im Totenkult, als repräsentatives Kunstobjekt im Privatbereich oder als Weihgeschenk im Heiligtum erschließen sich aus dem jeweiligen Fundkontext heraus.

Ein Charakteristikum des Kraters ist sein Aufbau als bauchiges Henkelgefäß ohne Schulter und Hals, das auf einem Fuß gelagert ist, einen tiefen und breiten Körper ausbildet und in einer weit ausladenden Mündung endet (Abb. 1. 2). Ab dem 6. Jahrhundert wurden in verschiedenen Regionen Griechenlands besondere Formen geprägt. Diese Neuschöpfungen lassen sich anhand der Henkelformen unterscheiden und können bestimmten Gegenden, in denen sie sich besonderer Beliebtheit erfreuten, zugeordnet werden. Hierzu gehört der Volutenkrater (Sparta) mit seinen großen spiralförmigen Voluten, die den Henkeln entspringen und an der Lippe ansetzen. Desweiteren ist der Kolonettenkrater (Korinth) zu nennen, der sich durch stangenförmige Henkel im Mündungsbereich auszeichnet. Der Name des Glockenkraters (Attika) weist auf die charakteristische Form seines Körpers hin. Erwähnenswert ist vor allem der Kelchkrater, eine Neuentwicklung der ausgehenden attisch-schwarzfigurigen Keramik, die ihre Formvollendung in der attisch-rotfigurigen Malerei erfahren hat und im Lauf der Zeit einem starken Formenwandel unterlag.

Die so genannten Kertscher Vasen, denen der hier vorgestellte Kelchkrater nach seinem Stil zugeordnet wird, verdanken ihren Namen ihrem Hauptfundort, der Stadt Kertsch auf der Halbinsel Krim im nördlichen Schwarzen Meer, und stellen eine Untergruppe später rotfiguriger attischer Vasen mit einer Laufzeit von etwa 370 bis 320 v.Chr. dar. Die griechischen Kolonien dieses Gebietes waren im 4. Jahrhundert Hauptgetreidelieferant und Handelspartner Athens und neben Böotien auch Hauptabnehmer der Vasenproduktion. Somit ist von vornherein eine Konzeption dieser Vasengattung als Massen- und Exportware vorauszusetzen. Weiterhin gehörten Hydrien und Peliken zum vielfältigen Gefäßformspektrum des Kertscher Stils.

Der älteste überlieferte Kelchkrater ist vermutlich dem großen Maler und Töpfer Exekias oder seinem nächsten Umkreis zuzuschreiben und datiert auf ca. 525 v.Chr. (Abb.1). Formvorbilder sind eventuell in der ionischen Keramik, wie zum Beispiel den Kelchen aus Chios, aber auch in kelchartigen Gefäßen Attikas zu suchen. Der Exekiaskrater zeichnet sich durch einen breiten, blütenkelchförmigen, nach oben hin konvex geschwungenen Körper mit einer weiten Mündung und durch die seitliche Anbringung der Henkel am unteren Teil des Gefäßkörpers aus. Man könnte auch sagen, dass er im weitesten Sinne an den Rock einer Frau erinnert.

Was Form und Proportion angeht, ist in der rotfigurigen Malerei eine starke Tendenz zur Streckung bzw. Längung des Gefäßes zu beobachten. Dies lässt sich gut an unserem in der Formentwicklung nahezu am Ende des Wandels des Gefäßtypus stehenden Exemplars verdeutlichen (Abb. 2). Die elaborierte formale Struktur beginnt mit der zweigegliederten Fuß-Sockelzone: ehemals in einer relativ einfachen, niedrigen Standplatte ausgeführt, erhebt sich der Fuß nun pokalähnlich mit einem leichten konvexen Schwung schräg nach oben, bildet einen plastischen Ring (Torus) aus, woraufhin in scharfem Kontrast dazu die obere Fußzone in konkavem Schwung in den Gefäßkörper mündet. Die Abgrenzung wird wiederum durch einen dezenten Ring vollzogen. Der Vasenkörper ist abermals zweigeteilt. Zu bemerken ist eine untere konvex geschwungene Henkelzone, an deren oberem Ende die Henkel ansetzen, schräg nach oben hinwegführen und einen schlaufenähnlichen Schwung nach innen vollführen. Darüber setzt eine kelchförmige, leicht konkav geschwungene Wandung an. Während diese in der schwarzfigurigen Phase noch konvex oder fast geradlinig nach oben steigend verlief, bildet sich in der rotfigurigen Phase die Tendenz zu einem mal mehr, mal weniger akzentuierten Konkavschwung aus. Manchmal, wie bei dem Mainzer Gefäß, ist die Wandung von der Henkelzone durch eine kleine Stufe abgesetzt.

Desweiteren ist die Unterteilung der beiden Zonen bildlich angelegt durch einen breiten Ornamentstreifen, der im Bereich der Henkel umläuft. Ornamentstreifen und Henkel fungieren somit als Träger für die Hauptbildfelder mit der figürlichen Bemalung. Die Konzeption der Gefäßkörperstruktur in einem "S-Schwung" zusammen mit der Anbringung der Henkel im unteren Teil des Körpers ist so angelegt, dass sie einerseits eine gefäßumlaufende Bemalung möglich macht, andererseits durch die Henkel eine Trennung vorgenommen wird, durch die das Gefäß in eine Haupt- und eine Nebenschauseite unterteilt wird. Markant für Kelchkratere ist der fast nahtlose Übergang der Wandung in die Mündungszone, die den größten Durchmesser des Gefäßes bildet. In späterer Zeit kragt sie immer weiter aus und klappt teilweise nach unten um. Bei unserem Krater wurde der Weg der fast horizontal verlaufenden, an der unteren Mündungsseite mit einer Stufe abgesetzten Lippe gewählt. Bei den frühen Gefäßen steht die weite Mündung fast im selben Maßverhältnis zur Gefäßhöhe.

Bei der figürlichen Bemalung folgen Kelchkratere der zeittypischen Tendenz zur Figurenreduzierung und zur klaren Unterscheidung einer Vorder- und einer Rückseite Auf dem Bildfeld der Schauseite erschließt sich dem Betrachter eine auf den ersten Blick merkwürdig anmutende Szenerie, in der von links ein junger, unbärtiger Mann mit kurzem Haar auf einem Greifen heranreitet (Abb. 2). Diese Figur wird von stilisierten Weintrauben eingerahmt. Sie präsentiert sich oberkörperfrei, wird jedoch vom weiß eingefärbten, weit ausladenden rechten Flügel des Greifen fast vollständig verdeckt. In seiner erhobenen Rechten hält der Mann den Saum ei
nes dünnen Mantels, der ihm zusätzlich als Satteldecke oder Zaumzeug dienen könnte, da er ihn um den Hals des Reittieres geschlungen hat. Sein Blick ist fixiert auf eine junge Frau mit zusammengebundem Haar, gewandet in einen langen weißen Chiton, die vor ihm davonzulaufen scheint. Im Laufen blickt sie sich nach ihm um und streckt ihm ein Tympanon (Rahmentrommel) entgegen. In ihrer linken Hand hält sie, auf dem Bild nicht sichtbar, eine schwarz gepunktete Fackel; vor ihr über dem rechten Henkel befindet sich ein umgestürzter Kalathos (Wollkorb). Rechts neben dem Kopf der Frau ist ein weiteres Füllornament durch ein tongrundiges Dreieck dargestellt. Über dem linken Henkel erhebt sich ein Altar mit Volutenaufsatz (Abb. 3).
Das figürlich bemalte Bildfeld der Rückseite (Abb. 4) hingegen zeigt ein ab dem 5. Jahrhundert v. Chr. sehr beliebtes Motiv, drei Manteljünglinge im Gespräch. Ihre Attribute verweisen auf den sportlichen Bereich: der mittlere trägt in seiner erhobenen Rechten einen Diskus mit Kreuz- und Punktverzierung, der Rechte ein kugelförmiges Gebilde, das einen Aryballos darstellen könnte.

Das Bild auf der Hauptseite (Abb. 2) illustriert wohl eine nächtliche Kultfeier zu Ehren des Weingottes Dionysos, der hier im Typus des jugendlichen, bartlosen Gottes, wie er sich ab dem 5. Jahrhundert v. Chr. herauskristallisiert hat, präsentiert wird. Daneben exisitiert weiterhin die ältere Darstellungsweise des alten, bärtigen Mannes mit langem Mantel. Die bereits angesprochenen Weintrauben legen diese Identifikation nahe. Verwirrung stiftet möglicherweise die Darstellung des Dionysos in Kombination mit dem Mischwesen des Greifen Es wurde bereits in geometrischer Zeit aus dem orientalischen Raum in die griechische Bildwelt aufgenommen und in diesem Falle in der altertümlichen Form des "Adler-Typus" mit geflügeltem Löwenkörper und Adlerhaupt ausgeführt. Der Greif ist der übliche Tierbegleiter des Apollon, während Dionysos in der Regel mit dem Panther verbunden wird. Im Mythos allerdings ist Dionysos ebenso wie sein Halbbruder Apollon im Kult von Delphi verwurzelt und übernimmt während der Wintermonate die Funktion des Schutzgottes für das Heiligtum, um im Frühjahr von Apollon, der auf dem Greifen von Hyperborea (mythisches, im Norden gelegenes Land) zurückreitet, wieder abgelöst zu werden.

Insofern erklärt sich nicht nur die Darstellung mit dem Greifen. Auch die eilende Frau lässt sich durch ihre Attribute Tympanon, Fackel und Kalathos eindeutig als Mänade, also als Anhängerin des dionysischen Gefolges (Thiasos), charakterisieren, die sich dem ekstatischen Rausch im dionysischen Kult hingibt. Das orgiastische Treiben mit ausgelassenem, zügellosem Tanz und Tieropfern ist auf diesem Vasenbild in stark abgemilderter Form wiedergegeben, was einen Trend der Vasenmalerei der spätklassischen Zeit wiederspiegelt:

Wie eingangs erwähnt, wurden Kratere größtenteils im Rahmen des Symposions genutzt. Diese Funktion ist bei unserem Stück auf Grund der geringen Größe jedoch kaum denkbar. Sehr viel eher hat es im sepulkralen Bereich als Grabbeigabe gedient, zumal die meisten Kertscher Vasen im Grabkontext gefunden wurden. Die bildlichen Darstellungen widerspechen dem nicht: die Kombination eines dionysischen Bildthemas mit einem sportlichen könnte symbolhaft für ein glückliches und erfülltes irdisches Dasein des Verstorbenen stehen, das man ihm im Jenseits nicht vorenthalten wollte.

Literatur

E. Böhr, CVA Mainz, Universität (2) Taf. 9; S. Buchmann, Orgiasmus und Liebeswerden, in: K. Junker (Hrsg.), Aus Mythos und Lebenswelt. Griechische Vasen aus der Sammlung der Universität Mainz (Worms 1999) 91-95 (mit der älteren Literatur). - Zur Form: M. G. Kanowski, Conatainers of Classical Greece. A Handbook of Shapes (St. Lucia 1984) 60-70; S. Frank, Attische Kelchkratere. Eine Untersuchung zum Zusammenspiel von Gefäßform und Bemalung (Frankfurt 1990). - Zu Stil und Motivik: K. Schefold, Kertscher Vasen (Berlin 1930).

Matthias Muno