Deckel einer Lekanis

Inv. 118 (1951 aus der Sammlung Preyß erworben; Herkunft unbekannt)

Durchmesser: 22,6-23,2 cm; Höhe des Knaufs 3,8 cm

Erhaltungszustand: aus zahlreichen Fragmenten fast vollständig zusammengesetzt

Einordnung: Athen, rotfigurig, ca. 410-400 v. Chr.

Kaum eine Gefäßform der griechischen Feinkeramik erscheint dem modernen Betrachter so vertraut wie die Lekanis. Sie gleicht nach Form und Abmessungen einer eleganten Schüssel, wie sie auch heute im Haushalt verwendet werden. Gefäße in Schüsselform zur Aufbewahrung von Speisen gab es in unterschiedlichen Formen und Größen schon in prähistorischen Kulturen. Die hier zur Diskussion stehende Ausführung wurde jedoch erstmals im späten 7. Jahrhundert geschaffen. Athenische Töpfer stellten zunächst deckellose Gefäße her, modern als lekáne bezeichnet (Plural lekanai). Schon um 600 kam die Variante mit Deckel hinzu, die so genannte lekanís (Pl. lekanides), die bald zur beherrschenden Form wurde. Im Vergleich etwa zu Schalen oder Amphoren ist die Zahl der erhaltenen Lekanai und Lekanides zwar relativ gering, doch werden sie über den gesamten Zeitraum bis in das spätere 4. Jahrhundert hergestellt. Schon im 6. Jahrhundert haben zudem auch Werkstätten außerhalb Attikas Gefäße dieser Art hergestellt; im 4. Jahrhundert wurden sie dann vor allem von Werkstätten im griechischen Unteritalien produziert.

Die Form der Lekanis hat sich im Laufe der Zeit nur relativ wenig verändert. Das Gefäß hat einen breiten, leicht ausgestellten Fuß, der das zunächst flache, dann kräftig ansteigende Becken trägt. Auffällig geformt sind die Henkel, die auf beiden Seiten um einen "Dorn', einen markanten Fortsatz, erweitert sind (auch als "Omega-Henkel' bezeichnet). Auf dem Becken liegt der in der Regel flache Deckel, in dessen Mitte sich ein Knauf in Form einer auf kurzem Stiel ruhenden Scheibe befindet. Wie bei vielen anderen Gefäßformen gibt es große Unterschiede in den Abmessungen. Das Becken kann einen Durchmesser von bis zu 40 cm aufweisen, doch gibt es auch zahlreiche kleinere Exemplare bis hin zu Miniaturformaten - die hier abgebildete Lekanis, die in einer griechischen Stadt in Kampanien (Italien) hergestellt wurde, hat einen Beckendurchmesser von gerade 10 cm. Neben den figürlichen bemalten Schüsseln gibt es auch eine größere Zahl von Gefäßen, die nur mit Glanzton überzogen sind.

Die Funktionen und die korrekte antike Bezeichnungen lassen sich nur annäherungsweise bestimmen. Lekanis, lekane und einige verwandte Begriffe erscheinen häufig in den antiken Schriftquellen und bezeichnen dort - im allgemeinen Sinne von „Becken, Schüssel” - Gefäße aus unterschiedlichen Materialien mit einem weiten Verwendungsspektrum, von der Darreichung von Speisen bis zum Waschen der Füße. Wenn innerhalb der Typen bemalter Keramik die geschlossene Form als Lekanis, die offene als Lekane bezeichnet wird, entspricht dies also nicht exakt dem antiken Sprachgebrauch, sondern dient eher der wissenschaftlichen Verständigung. Um die Funktion der bemalten Tongefäße einzugrenzen, muss man sich stattdessen vor allem an die Fundumstände und die Darstellungen auf den Lekanai und Lekaniden selbst halten. Der elementar praktische Gebrauch - die Verwendung als Haushaltsschüssel - ist jedenfalls für die aufwendig dekorierten Exemplare vermutlich die Ausnahme gewesen, trotz der prinzipiell guten Eignung für diesen Zweck. Aus der Fundsituation ist abzuleiten, dass der Einsatz im sepulkralen Bereich den ersten Impuls für die Schaffung solcher Gefäße gab. Später treten jedoch auch die anderen beiden traditionellen Verwendungsbereiche für Feinkeramik hinzu, als Weihgeschenk im Heiligtum und als repräsentatives Objekt im Haus. Den Darstellungen auf den Gefäßen selbst nach zu urteilen, haben jedenfalls manche rotfigurigen Lekanides offenbar als Brautgeschenke gedient - wie es auch für das Mainzer Exemplar anzunehmen ist.

Erhalten hat sich von diesem nur der Deckel. Er weist lediglich geringe Fehlstellen auf, ist jedoch stark verbogen. Nur noch als matte Flächen zeichnen sich die einst mit Deckweiß überzogenen Partien (textile Elemente bei den Frauenfiguren) ab. Mit einem Durchmesser von etwa 23 cm handelt es sich um ein Exemplar von mittlerer Größe. Die Art der Figurenzeichnung mit einem sehr reichen, fast schon nervösen Faltenspiel ermöglicht eine Datierung in den so genannten Reichen Stil (Ende des 5. Jahrhunderts v. Chr.). Der Vasenmaler gehört in den Umkreis eines der großen Meister dieser künstlerischen Strömung, des sog. Meidias-Malers.

Die Oberseite des Deckels wird von einem umlaufenden Figurenfries gefüllt, der nach innen und außen hin von einem tongrundigen Streifen begrenzt wird. Ein Eierstabmotiv fasst den Ansatz des Knaufes ein, ein weiteres schmückt den seitlichen Deckelrand. Der Figurenfries scheint zunächst aus einer simplen Reihung weiblicher Figuren zu bestehen, besitzt jedoch eine klare innere Gliederung. Er zerfällt in zwei Hälften, in deren Mitte jeweils eine Frau auf einer mit einigen gerundeten Linien angedeuteten Felsenstruktur sitzt; zwei andere Frauen, die Objekte in den Händen halten, wenden sich der Sitzenden zu. Die Aufgliederung eines Frieses in zwei Dreiergruppen mit je einer Mittelfigur begegnet in verwandter Form auch auf vielen anderen Gefäßen des späteren 5. Jahrhunderts, in der Mainzer Sammlung etwa den Schalen Inv. 105 und 107.

Alle Frauen tragen ein Gewand, das seiner Gürtung nach als (wollener) übergegürteter Peplos zu bezeichnen ist, dem leichten Fall und den darunter sichtbaren Körperformen nach aber dem leinenen Chiton entspricht. Nur die Frisuren und der nicht immer sichtbare Ohrschmuck unterscheiden die Frauen ein wenig voneinander; die Haare haben etwas ungleiche Länge und sind bei drei der Frauen mit Tüchern drapiert.

Nicht nur die angedeuteten Felsen, sondern auch die - einst etwas deutlichere - Wieder-gabe von Blumen definieren den Schauplatz eigentlich als einen Ort in der Natur oder jedenfalls draußen. Dem scheinen aber die Aktionen der Stehenden zu widersprechen, denn sie bringen Gefäße herbei, die in den Bereich des Hauses gehören: gemusterte Kästchen tragen die Frauen vor den Sitzenden, so genannte Exaleiptra die Frauen dahinter. Bänder, zwei Körbe, weitere Kästchen und ein Alabastron in der Hand der einen Sitzenden vervollständigen die Fülle an Requisiten. In die gewollte Unbestimmtheit der Szenerie fügen sich auch die beiden Vögel ein, die Gans hinter der einen Sitzenden sowie der Singvogel, wohl eine Nachtigall, in ihrer Hand. Vögel zu Hause zu halten, war in der griechischen Antike ein beliebter Zeitvertreib.

Die Komposition findet sich in ihren Grundzügen auf zahlreichen attischen Gefäßen der Zeit wieder; Elemente davon sind etwa auch auf der Pyxis der Mainzer Sammlung zu sehen. In der Zusammenstellung der Figuren deutet sich schon an, dass die Darstellung in die Welt der Frauen führt. Aus der älteren Forschung hat sich dafür der heute etwas altmodisch klingende Ausdruck "Frauengemachsbilder' eingebürgert. Die Tatsache, dass in beiden Frieshälften differenziert wird zwischen einer Sitzenden im Zentrum des Bildes und zwei weiteren Frauen, die etwas herantragen, bringt die Darstellung in die Nähe von Hochzeitsbildern mit der Braut als der Empfängerin von Geschenken. Dokumentarischen Charakter will das Bild jedoch nicht beanspruchen, wie sich scho
n aus der Verdoppelung des Motivs ergibt. Dass der Figurenfries nicht eine reale Situation wiedergeben will, zeigt sich im übrigen ganz unzweifelhaft durch drei Namensbeischriften, die heute nur noch schwach zu erkennen sind, im originalen Zustand aber als weiße Buchstaben klar hervortraten. Die sitzende Frau mit den aufgebundenen Haaren wird als Eunomía (gute Ordnung) bezeichnet, die Frau vor ihr als Eukleía (guter Ruf, hohes Ansehen), die Sitzende auf der Gegenseite als Paidiá (Spiel, Spielfreude). Es handelt sich demnach um Personifikationen, d.h. um abstrakte Werte, die von menschlichen Figuren verkörpert werden (das Genus der griechischen Wörter ist durchweg weiblich).

Personifikationen - am bekanntesten ist die des Sieges, griech. nike, lat. victoria - sind in der griechischen Kunst der klassischen Epoche nicht selten. Erzählerisch dünnen sie eine Szene aus, denn wenn Personifikationen in eine Darstellung eingefügt sind, hat der Betrachter keine zusammenhängende Szene mehr vor sich: es handelt sich nicht mehr um eine homogene Gruppe von Frauen in ihrem typischen Ambiente, sondern im Grunde um ein Nebeneinander von Abstrakta und von konkreten Gestalten aus der Lebenswelt. Der Vorteil der Einfügung von Personifikationen aber liegt darin, ein Bild inhaltlich zu fokussieren und gleichsam zu erläutern. Anhand ihrer typischen Elemente würde unser Bild von einem Athener oder einer Athenerin zwar zuverlässig dem Bereich Frauengemach und Hochzeit zugeordnet werden, ohne dass damit aber etwas Spezifisches ausgesagt würde. Die Beischriften dagegen machen eine präzise Aussage zu den Werten und Wünschen, die sich mit Frauenleben und Verheiratung verbinden. „Hohes Ansehen” soll die Braut gewinnen, in geordneten Verhältnissen leben, und neben - der hier ausgeblendeten - Arbeit sollen auch Spiel und Vergnügen zu ihrem Dasein gehören. Dieses Ideal findet man auf Vasenbildern dieser Jahre häufig dargestellt und explizit ausgesprochen. Nach unseren aktuellen Maßstäben wirkt es vielleicht allzu bürgerlich oder gar verstaubt, doch müssen bei einer Bewertung die Zeitumstände mitbedacht werden. Der Fries auf dem Lekanisdeckel gehört in eine sehr bewegte Epoche der athenischen Geschichte. Großmachtträume und der Glaube, mit der Demokratie ein allen anderen überlegenes Gesellschaftsmodell entwickelt zu haben, führten Athen in den fast dreißig Jahre dauernden Peloponnesischen Krieg und schließlich im Jahr 404 zu einer desaströsen Niederlage. Die Kriegserfahrungen und -konsequenzen sind zwar sicher nicht der einzige, aber ein wesentlicher Faktor einer tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderung in Athen wie auch in anderen Bereichen der griechischen Welt. Ein wesentlicher Zug dieser Veränderung war Friedenssehnsucht und in Verbindung damit eine verstärkte Bedeutung des Zusammenhalts in Familie und sozialer Gemeinschaft. Eunomia und Eukleia zu beschwören, also hohes Ansehen in einer stabilen gesellschaftlichen Ordnung, findet eine Generation später seine Fortsetzung und Steigerung in der Entscheidung, Eirene, dem Frieden, in Athen einen eigenen Kult einzurichten.

Literatur
ARV² 1327, 87. E. Böhr, CVA Mainz (2) Taf. 27. 28; C. Christmann in: K. Junker (Hrsg.), Aus Mythos und Lebenswelt. Griechische Vasen aus der Sammlung der Universität Mainz (Worms 1999) 87-90 (mit der älteren Literatur); B. E. Borg, Eunomia oder: Vom Eros der Hellenen, in: R. v.d. Hoff - St. Schmidt (Hrsg.), Konstruktionen von Wirklichkeit. Bilder im Griechenland des 5. und 4. Jahrhunderts v. Chr. (Stuttgart 2001) 299-314 Abb. 3.
Zur Form. A. Lioutas, Attisch-schwarzfigurige Lekanai und Lekanides (Würzburg 1987); D. E. Breitfeld-v. Eickstedt, Die Lekanis vom 6.-4. Jh. v. Chr. Beobachtungen zur Form und Entwicklung einer Vasengattung, in: J. H. Oakley u.a. (Hrsg.), Athenian Potters and Painters (Oxford 1987) 55-61.

PD Dr. Klaus Junker