Erinnerungspolitik und Nationalfeiern in Afrika

Doktorandengruppe im Rahmen des Programms „PRO Geistes- und Sozialwissenschaften 2015“ der Johannes Gutenberg-Universität Mainz

Ghana@50. Foto: C. LentzDass im Jahr 2010 siebzehn afrikanische Staaten den fünfzigsten Jahrestag ihrer Unabhängigkeit gefeiert haben, bietet eine einmalige Chance, Erinnerungspolitik und Nationalfeiern, die von Anfang an integraler Bestandteil der Herausbildung afrikanischer Nationen waren, vergleichend zu erforschen. Die Feiern waren zum einen selbst kathartische Momente der Nationenbildung; zum anderen gaben sie Anlass zu Kontroversen über Organisation, Programmgestaltung, Bildsprache und Aufführungspraxen, in denen sich Konflikte zwischen konkurrierenden politischen Projekten, soziale Differenzen (Klasse, Geschlecht, Alter) und regionale, ethnische und religiöse Diversität niederschlagen. Eine vergleichende Untersuchung der Feiern ermöglicht Einblicke in die Herausforderungen und unterschiedlichen Strategien der Nationenwerdung im postkolonialen Afrika − ein Thema, das erstaunlicherweise bisher kaum auf solider empirischer Basis untersucht worden ist.

Seit 1.10.2009 arbeiten sechs DoktorandInnen zum Thema nation-building, Erinnerungspolitik und Unabhängigkeitsfeiern in Afrika. In Kooperation mit einer studentischen Lehrforschung wurden im Jahr 2010 vergleichende Feldforschungen zu den Fünzigjahrfeiern der Unabhängigkeit in Benin, Burkina Faso, Côte d’Ivoire, Gabun, Kamerun, Demokratische Republik Kongo, Madagaskar, Mali und Nigeria, sowie dem zwanzigjährigen Jubiläum der Unabhängigkeit in Namibia durchgeführt. Dies ermöglichte einen einzigartigen Einblick in nationale Erinnerungskultur und die Poetik politischer Feiern in Afrika. Ein gemeinsam erarbeitetes komparatives Forschungsprogramm legte den Grundstein für die vergleichende Forschung. Die DoktorandInnen setzten zusätzlich jeweils individuelle Schwerpunkte in ihren Feldstudien.

Nachfolgeprojekte: "Die Aufführung von Nation und subnationalen Differenzen in afrikanischen Nationalfeiern" (2016-19) und "Ethnische und nationale Differenzierung in afrikanischen Nationalfeiern" (2013-16)

Christine Fricke forscht zu den Jubiläumsfeiern in Gabun. Politischer Hintergrund sind die gegenwärtigen politischen Veränderungen durch den Tod des Präsidenten Omar Bongo Ondimba, der während seiner knapp 42 Jahre Amtszeit als das Nationalsymbol schlechthin galt, und die umstrittene Nachfolge Ali Ben Bongos. Den Feierlichkeiten kommt so besondere Bedeutung zu – als kathartischer, aber auch kontroverser Moment kollektiver Erinnerung, gesellschaftlicher Integration und politischer Legitimation sowie der (Re-)Produktion und Aushandlung divergierender nationaler Selbstbilder. In diesem Zusammenhang sind insbesondere auch die Stellung Gabuns innerhalb des Françafrique, die hohe Einwanderungsquote und die gabunische Diaspora von Interesse.

Svenja Haberechts Forschung zum Unabhängigkeitsjubiläum in Burkina Faso beschäftigt sich mit dem Spannungsverhältnis zwischen offizieller Politik und den inoffiziellen Praktiken des Erinnerns. Eine zentrale Frage ist, wer anlässlich der Nationalfeier die burkinische Geschichte wie erzählt. Welche historischen Phasen und Persönlichkeiten werden als erinnerungswert und identitätsstiftend betrachtet, und welche werden aus machtpolitischen oder anderen Gründen „vergessen“? Die Aufmerksamkeit gilt dabei besonders der Aushandlung eines „kollektiven Gedächtnisses“ zwischen den verschiedenen politischen Parteien, den Gewerkschaften und zivilgesellschaftlichen Initiativen sowie der (Re)Produktion nationaler Identität im Rahmen der Unabhängigkeitsfeiern.

Godwin Kornes untersucht das Spannungsfeld zwischen staatlicher Erinnerungspolitik und lokalen Erinnerungspraxen in Namibia. Ausgehend von der Analyse nationaler und regionaler Gedenkpraktiken steht hierbei vor allem die Frage im Vordergrund, auf welche Weise das historische Narrativ des Unabhängigkeitskampfes von unterschiedlichen Akteuren angeeignet und erzählt wird. Insbesondere die jeweiligen Strategien des Einschreibens dieser Gedenkpraktiken in die zwei großen Erinnerungsorte ‚Unabhängigkeit’ und ‚Befreiungskampf’ werden hierbei betrachtet. Grundlegend hierfür ist ein Verständnis der Nation, das die widerstreitenden Gedächtnisse multipler Erinnerungsgemeinschaften nicht als Widerspruch oder Krise begreift, sondern als konstitutives Merkmal des nation building in einem jungen postkolonialen Staat, in dem komplexe Prozesse der gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Differenzierung ablaufen. Dies erlaubt einen faszinierenden Blick auf Namibia als „nation in the making“. Fallstudien thematisieren die Feierlichkeiten des 20. Unabhängigkeitsjubiläums 2010; nationale Gedenktage; die Planung und Kuration des durch Nordkorea erbauten Independence Memorial Museums in Windhoek; kommunales Heldengedenken in Hoachanas; die Restituierung namibischer Gebeine aus Deutschland.

Konstanze N‘Guessan erforscht Politik und Poetik nationalen Erinnerns in der Côte d’Ivoire. Nach der Einführung des Mehrparteiensystems 1990 und dem Tod des ersten Präsidenten des Landes im Jahr 1993 sucht hier eine neue Politikergeneration nach einem angemessenen Umgang mit dem Erbe des „Alten“, Houphouët-Boigny. Die Geschichte der Unabhängigkeit, ist in ihrer steten Re-Aktualisierung sehr lebendig: auch 2011 wurden um ihretwillen neue Märtyrer und neue Schlachten in das Narrativ Unabhängigkeit eingeschrieben. Weit mehr als eine profane Politisierung von Geschichte, sind die vielen zum Teil widerstreitenden „Geschichten von der Unabhängigkeit“ sowohl Ausdruck als auch Katalysator ivorischer Selbstbilder. Das Dissertationsprojekt untersucht in einer Analyse des Erinnerungsorts Unabhängigkeit verschiedene Formen der Vergangenheitsaktualisierung als soziale Praktiken.

Mareike Späth untersucht das 50. Jubiläum der Unabhängigkeit in Madagaskar als nationales Event. Das facettenreiche Ereignis wird dabei in der Vielfalt seiner Dimensionen erfasst um die Gestaltungsräume eines nationalen Events in ihrem Zusammenspiel zu analysieren. Das Projekt fragt, welche Qualität abstrakten Konzepten wie ‚Unabhängigkeit‘ und ‚nationaler Identität‘ von verschiedenen Akteuren zugeschrieben wird und untersucht, wie in Praktiken des Feierns und Gedenkens offizielle Diskurse mit individuellen und privaten Formaten konkurrieren bzw. sich verbinden. Dabei wird erörtert, wie das nationale Ereignis durch Aneignung und Reinterpretation verschiedener Akteure zur Aushandlung nationaler Kohäsion beiträgt.

Kathrin Tiewa Ngninzégha untersucht am Beispiel Kameruns, wie die Spannungen zwischen dem frankophonen (unabhängig seit dem 1.1.1960) und dem anglophonen (unabhängig seit dem 1.10.1961) Teil des Landes die Feierlichkeiten zum Cinquantenaire prägen. Obwohl sich nur wenige Beispiele für eine gelebte nationale Einheit Kameruns finden lassen, stellt die Regierung diesen Aspekt in den Mittelpunkt der Feiern. So ist das gemeinsame Datum, an dem nun das goldene Unabhängigkeitsjubiläum gefeiert wird, der Tag der „Wiedervereinigung“ (20.5.1972). Diese Bemühungen sind jedoch auch im Lichte der bevorstehenden Präsidentschaftswahlen 2011 zu verstehen, die die Jubiläumsfeiern auch zu einer Plattform für parteipolitische Aktivitäten machen. Die Frage, inwiefern die Feiern dabei tatsächlich die Einheit fördern oder vielmehr die Differenzen betonen, steht im Mittelpunkt des Forschungsprojektes.

Bild: Ghana@50. Foto: C. Lentz