Heft 2/2009: Entropie – Editorial

Editorial
von David Oels und Tim Sparenberg

Im, laut Klappentext, »erfolgreichste[n] Wissenschaftsbestseller aller Zeiten«, Stephen Hawkings Eine kurze Geschichte der Zeit (1985), wird über Sachbuchlektüre und Entropie, hier als Grad der Unordnung verstanden, wenig Erfreuliches berichtet:

Die wachsende Fähigkeit der Menschheit, das Universum zu verstehen, hat einen kleinen Winkel der Ordnung in einem zunehmend der Unordnung verfallenden Universum geschafen. Wenn Sie sich an jedes Wort in diesem Buch erinnern, sind in Ihrem Gedächtnis etwa zwei Millionen Informationseinheiten gespeichert: Die Ordnung in Ihrem Gehirn ist um zwei Millionen Einheiten angewachsen. Doch während Sie das Buch gelesen haben, sind mindestens tausend Kalorien geordneter Energie – in Form von Nahrung – in ungeordnete Energie umgewandelt worden – in Form von Wärme, die Sie durch Wärmeleitung und Schweiß an die Luft abgegeben haben. Dies wird die Unordnung des Universums um ungefähr zwanzig Millionen Millionen Millionen Millionen Einheiten erhöhen – also ungefähr um das Zehnmillionenmillionenmillionenfache der Ordnungszunahme in Ihrem Gehirn. [1]

Und selbst das gilt nur im allergünstigsten Fall, nämlich dann, wenn »Sie sich an alles, was in diesem Buch steht, erinnern.« [2]

Was aber ist »Entropie«und vor allem: was hat sie mit Büchern zu tun? Die Antwort darauf lässt sich nicht ohne Weiteres in einem Satz geben und vermutlich macht genau das sie zu einem interessanten Gegenstand für Literatur, Sachbücher und auch für die Sachbuchforschung. So stellt etwa der Mathematiker Harold Grad fest, dass es bereits innerhalb der fachinternen Kommunikation kaum möglich ist, Entropie transsubjektiv eindeutig zu bestimmen:

It may have many diferent entropies, each one worthwhile. The proper choice will depend on the interests of the individual, the particular phenomena under study, the degree of precision available or arbitrarily decided upon, or the method of description which is employed; and each of these criteria is largely subject to the discretion of the individual. The fertility of this concept is in large part due to its flexibility and multiple meanings. On the other hand, much of the confusion in the subject is traceable to the ostensibly unifying belief (possibly theological in origin!) that there is only one entropy. [...] It does not seem to be possible to give a precise mathematical definition of entropy or to create an abstract mathematical structure which is general enough to include all of the interesting applications. [3]

Man könnte vielleicht sagen, Entropie ist trotz ihrer ausgeprägten Formalisierung durch die zeitgenössische Physik gleichzeitig über- und unterdeterminiert. Es gibt daher ein doppeltes Bedürfnis sie zu erklären.

Einerseits ist Entropie einer der wohl abstraktesten wissenschaftlichen Gegenstände. Ausgehend von Rudolf Clausius Untersuchungen zum Wirkungsgrad der Dampfmaschine ist Entropie von der modernen Physik vielfältig formalisiert worden. Dabei war die physikalische Formalisierung von Beginn an nicht zu trennen von soziokulturellen Wissensbeständen aus Ökonomie, Theologie, den Lebenswissenschaften und Vorstellungen vom Sozialkörper. Schon im 19. Jahrhundert hat sich in diesem interdisziplinären und transkulturellen Geflecht ein ebenso verflochtenes Bedeutungsgefüge gebildet, das auch am Anfang des 21. Jahrhunderts nicht auf ein einheitliches Konzept reduziert werden kann. Andererseits, möglicherweise: gerade deshalb, ist in vielen kulturellen Gefügen ein Bedürfnis festzustellen, den Charakter von Entropie eindeutig zu bestimmen. Entropie scheint zwar überall präsent zu sein, aber man kann sie nicht schmecken, man kann sie nicht sehen und man kann sie nicht fühlen. Sie entzieht sich der sinnlichen Anschauung und muss daher erklärt werden. Auf dieses Bedürfnis nach Erklärung antworten populärwissenschaftliche Darstellungen der Entropie. Diese schöpfen zur Veranschaulichung des zweiten Hauptsatzes dabei aufallend oft aus Wissensbeständen, auf die bereits die Physiker selbst zurückgrifen, bei den Versuchen »Entropie« zu konzeptualisieren.

Auch wenn die Lektüre bestenfalls eine kleine Insel der Ordnung bei ungleich größerer Entropiezunahme im Universum schafen kann, wird im vorliegenden Heft der Versuch unternommen, dieses komplexe Wechselverhältnis zwischen esoterischen und exoterischen Wissensformen, kulturellen Konzepten, Experimenten, Fiktion und Fakten aus unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten. Zunächst suchen Ernst Peter Fischer und Elisabeth Neswald wissenschaftshistorisch über die For schungsgeschichte des Entropieproblems eine Antwort auf die schwierige Frage, was Entropie ist. Anschließend analysieren Julia Knoepke und David Oels systematisch und kulturhistorisch die Popularisierungsgeschichte des Zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik, bevor Tim Sparenberg und Müzeyyen Ege sich im Grenzbereich von Belletristik und Sachliteratur den Wirkungen und Wechselwirkungen zwischen fiktionalen Weltentwürfen, Kultur- und Faszinationsgeschichte zuwenden. Außerhalb des Schwerpunkts widmet sich Michael Schikowski den Spezifika des Sachbuchs in Deutschland.

Anmerkungen:

[1] Hawking, Stephen: Eine kurze Geschichte der Zeit. München 2002, S. 196.

[2] Ebd., S. 197.

[3] Grad, Harold: The many faces of entropy. In: Communications on pure and applied mathematics 14 (1961), S. 323-354, hier S. 323.