Heft 1–2/2010: Sachtexte für Kinder und Jugendliche – Editorial

Editorial
von Almuth Meissner, David Oels und  Henning Wrage

Fragt man Erwachsene nach den prägenden Leseerlebnissen ihrer Kindheit und Jugend, wird man nicht selten Berichte von Sachbuchlektüren erhalten – sei es die rauschhafte Begegnung mit Piraten und Weltumseglern, Entdeckern und Eroberern, Archäologen und Wissenschaftlern, sei es die Auseinandersetzung mit Sofies Welt (dt. 1993), dem Tagebuch der Anne Frank (dt. 1950) oder Simone de Beauvoirs Anderem Geschlecht (dt. 1951) im fortgeschrittenen Jugendalter, oder seien es die Was-ist-Was-Bände, die Aufklappbücher und Bildbände der früheren Kindheit. Auch ein Großteil schulischer Wissensvermittlung geschieht über Sachtexte. Nach dem Pisa-Schock (2001) hat das Interesse an der textbasierten Wissensvermittlung noch einmal zugenommen. Immerhin waren deutsche Schülerinnen und Schüler besonders schlecht in der Lage, aus Sachtexten die wichtigen Informationen zu entnehmen und anzuwenden. In den Schulen führte das zu einem verstärkten Einsatz von Sachtexten auch im Deutschunterricht, mit dem Ziel, eine spezifische Sachtext-Lesefähigkeit zu fördern, außerhalb der Schulen zum Boom der Kinder-Universitäten und Nachhilfebücher, mit denen besorgte Eltern ihren Nachwuchs versorgen. Nicht zuletzt wird der Deutsche Jugendliteraturpreis seit 1967 auch in der Kategorie Sachbuch vergeben; der LUCHS Kinder- und Jugendbuchpreis der Zeit und Radio Bremens, 1986 begründet, berücksichtigte seit je auch Sachbücher.

Es ist daher nicht erstaunlich, dass, im Gegensatz zum Sachbuch für Erwachsene, Sachbücher und Sachtexte für Kinder und Jugendliche zum Gegenstand verschiedener Forschungen geworden sind und werden. So liegen umfangreiche kultur- und literaturgeschichtliche Untersuchungen zum Kinder- und Jugendsachbuch insbesondere für das 18. und 19. Jahrhundert vor und auch die Bücher des 20. Jahrhunderts bis hin zur aktuellen Sachbuchproduktion finden in Publikationen zur Kinder- und Jugendliteratur Berücksichtigung. Didaktische Forschung und schulpraktische Literatur widmen sich Sachtexten im Zusammenhang mit der Entwicklung von Lesekompetenz und der textlichen Aufbereitung fachspezifischer Wissensbestände. Und auch auf dem Buch- und Zeitschriftenmarkt der Gegenwart hat eine verstärkte Reflexion über Sachtexte und Sachbücher eingesetzt. Diesen Forschungen und Entwicklungen geht das vorliegende Heft nach.

Zwei Beiträge zur Fiktionalität und Nicht-Fiktionalität im Kinder- und Jugendsachbuch und zur sachorientierten Literatur für junge Leser im 19. Jahrhundert schaffen im systematischen und historischen Überblick einen Rahmen für die übrigen Beiträge des Hefts. Rüdiger Steinleins systematisch angelegter Text diskutiert zunächst die terminologischen Debatten um das Kinder- und Jugendsachbuch – aufbauend auf der übergeordneten Diskussion über die Unterscheidung von fiktionaler und faktualer Literatur. Zur Sprache kommen Vorstufen des Sachbuchs wie die Enzyklopädie, Beispiele der tatsächlichen Nutzung, extratextuelle Bedeutungskonstituenten (insbesondere Illustrationen), die Differenz zum Fachbuch sowie unterschiedliche Modalitäten der Vertextung (erzählen versus berichten) und der handlungs- oder informationslogischen Textstrukturierung.

Der Aufsatz von Klaus-Ulrich Pech entwirft dieser Perspektive gegenüber ein historisches Panorama der nicht-fiktionalen Literatur für junge Leserinnen und Leser. Seine zentrale These lautet, dass diese Textsorte im 19. Jahrhundert einerseits avancierter ist als ihr Gegenstück für erwachsene Leser, andererseits in wesentlichen Elementen der Sachliteratur heute den Weg gebahnt hat. Diese Vorreiterrolle begründet sich nicht zuletzt in einer besonderen Anschlussfähigkeit, die der Kinder- und Jugendliteratur durch ihre Tradition als Belehrungs- und Sozialisationsvehikel innewohnt. Dies weist Pech – über die Einzelanalyse repräsentativer Texte hinaus – an spezifischen Markern im literarischen Feld, etwa Autorentypen, Entwicklungen im Verlagswesen, der Buchausstattung und den literarischen Vermittlungsverfahren (Textualisierung und Kontextualisierung, Komplexitätsreduktion, Dialogisierung, Personalisierung, Veranschaulichung, Narration) nach.

Spezifischen Themenfeldern der sachorientierten Literatur für Kinder und Jugendliche widmen sich Sabine Berthold und Heike Elisabeth Jüngst. Berthold macht am Beispiel des Sujets Wirtschaft deutlich, dass es hier – wie vielleicht stets im Kinder- und Jugendsachbuch – ebenso um die Vermittlung von Sachzusammenhängen, etwa der materiellen Wertschöpfung geht, wie um die Kommunikation immaterieller Werte. Insofern machen Wirtschaftssachbücher für Kinder- und Jugendliche am prägnanten Beispiel deutlich, dass es beim Sachbuch in Intention und Wirkung stets um Wert und Werte, um Prozesse der Meinungsbildung und der Verfestigung kollektiver Deutungsmuster geht. Ihre Qualität ergibt sich mithin aus einem komplexen Gefüge von sachlicher Angemessenheit, Wertorientierung und Unterhaltsamkeit. Jüngst beschäftigt sich mit dem Sachcomic als einem Genre, das das hohe Unterhaltungspotential des Comics für die gezielte Wissensvermittlung operationalisiert. An Hanisauland und den Quer-Comics wird die hohe Themenvielfalt, die spezielle Text-Bild-Relation und die besondere Marktsituation erläutert, die sich aus der in der Regel kostenlosen Weitergabe durch Behörden und Ämter oder andere Mediatoren ergibt.

Die Beiträge von Almuth Meissner und Tanja Tajmel beleuchten den Stellenwert von Sachtexten im Kontext der Schule. Die hierbei fokussierten Sachtexte werden zwar von (schulpflichtigen) Kindern und Jugendlichen gelesen, sind aber nicht in jedem Fall an sie adressiert. Meissner beschäftigt sich in ihrem Beitrag vorrangig mit der Rezeption von Sachtexten. Gemeint sind hier – im Sinne einer Begriffserweiterung – Sachtexte aller Art (z. B. Gebrauchsanweisungen, Informationstexte, populäre Sachbücher), die als Gegenstand des Erkenntnisinteresses oder als Informationslieferanten Eingang in den Deutschunterricht finden können. Anknüpfend an die deutschdidaktische Diskussion der letzten Jahre fragt sie nach den kognitionspsychologischen Bedingungen des Lesens und Verstehens von Sachtexten und zeigt auf, welche Möglichkeiten der Förderung von Schülerinnen und Schülern mit Leseproblemen sich daraus ergeben. Auch Tajmel beschäftigt sich mit der Nutzung von Sachtexten im Unterricht, wobei hier kürzere Texte in Lehrwerken für den Physikunterricht gemeint sind. In ihrem Beitrag macht sie deutlich, dass der Fokus auf Sachtexte und ihre Qualitäten besonders dann zu kurz greift, wenn die Rezipienten – besonders Schülerinnen und Schüler nichtdeutscher Herkunftssprache – nicht über die notwendigen sprachlichen Voraussetzungen verfügen, um die sprachlichen Hürden erfolgreich zu nehmen, denen sie in Fachtexten der naturwissenschaftlichen Fächer begegnen. Tajmel zeigt vor allem, dass die Ursachen für die Textverstehensprobleme, die sich für diese Schüler ergeben, weniger bei den fachsprachlichen Besonderheiten der jeweiligen Sachtexte liegen als im Bereich der sogenannten Bildungssprache.

Mit Barbara Lich und Katharina Beckmann, Maja Nielsen und Julia Kühn kommen vier Redakteurinnen, Lektorinnen und Autorinnen von Sachtexten und Sachbüchern für Kinder- und Jugendliche zu Wort. Während Lich und Beckmann, beide Textredakteurinnen bei GEOlino, das Bild eines sehr kontrollierten, in jeder Phase reflektierten Entstehungsprozesses ihrer Texte zeichnen, ist der Schreibprozess für Nielsen ein gewissermaßen natürlicher, kreativer Vorgang. Beschäftigen sich die Macherinnen des Wissensmagazins für Kinder und Jugendliche bereits während der Planung eines Beitrags intensiv mit Möglichkeiten des Textdesigns und Layouts ihrer Texte, ist dies eine Aufgabe, die explizit nicht im Blickfeld der Jugendsachbuchautorin Nielsen steht. Geht es Nielsen eher um die Emotionalisierung des Wissens, steht bei GEOlino die Strukturierung im Vordergrund. Mit welcher Ernsthaftigkeit Autorinnen und Autoren von Sachbüchern und -texten für Kinder und Jugendliche ans Werk gehen, wird noch einmal im Beitrag von Kühn, Lektorin bei Rowohlt Berlin, deutlich. Dabei stellt sie die besondere Aufgabe von Jugendsachbuchautoren im Zeitalter des Internets heraus, nämlich Kindern und Jugendlichen nicht nur fachlich korrektes, adressatengerecht aufbereitetes und eingängig dargestelltes Wissen zu vermitteln, sondern ihnen damit einhergehend einen gelenkten Einstieg in die Welt des Wissens zu ermöglichen. Als Literaturkritiker und Herausgeber einer Sachbuchreihe für Kinder und Jugendliche steht Tilman Spreckelsen an der Schwelle zwischen Machern und Lesern von Kinder- und Jugendsachbüchern, und das in zweifacher Weise: einerseits als Erwachsener, der Sachbücher für Kinder und Jugendliche aufgrund ihrer fachlich-inhaltlichen sowie ihrer gestalterischen Qualität beurteilt, und andererseits als eine Art Stellvertreter der Kinder und Jugendlichen, der diese Bücher hinsichtlich ihrer Adressatenangemessenheit begutachtet. Im Interview äußert er sich zu Entwicklungen des Kinder- und Jugendsachbuches auf dem deutschen Buchmarkt und stellt Überlegungen zu Rezeptionsphänomenen wie der Vorlesesituation und den zunehmend erwachsenen Lesern solcher Sachbücher an.

Außerhalb des Schwerpunkts widmet sich Silke Körber dem illustrierten Sachbuch und Manfred Grieger stellt einen Bestseller der fünfziger Jahre, Horst Mönnichs Autostadt (1951), vor.

September 2010