Heft 1/2013: Biographie – Editorial

Editorial
von David Oels, Michael Schikowski, Ute Schneider und Erhard Schütz

Um klarzustellen, worum es in dieser Zeitschrift gehen wird, haben sich die Herausgeber gleich zu Beginn des Editorials der ersten Ausgabe von 2006 eines Zitats von Friedrich Sengle bedient, in dem dieser verschiedene Textsorten aufzählt, denen sich die Literaturwissenschaft künftig widmen sollte und die für die Herausgeber jenes andere Gattungsarsenal skizzieren, das Non Fiktion in den Blick nehmen will. Dass Sengle dabei als erstes die Biographie nennt, scheint heute angesichts ihrer Präsenz auf dem Buchmarkt konsequent, denn Biographik boomt. Die Biographie zählt zu den erfolgreichsten Sachbuchgenres überhaupt. In den Buchhandlungen füllen die Neuerscheinungen eigene Abteilungen, in den Feuilletons werden Biographien (im Vergleich zu anderen Sachbüchern) überproportional häufig besprochen. Die Bandbreite und der Variantenreichtum der biographischen Publikationen ist dabei immens: Da stehen wissenschaftliche Großprojekte, die aus jahrelanger Forschungsarbeit hervorgehen und sich aus kritischer Distanz möglichst dicht an den Fakten entlang bewegen, neben literarischen Formen, die, ausgehend von historischen Begebenheiten, ein erzählerisches Panorama entwerfen, in dem durchaus Freiraum für Fiktion und Imagination bleibt. Da finden sich hoch reflektierte Varianten, die gleichzeitig das Leben einer historischen Person entfalten und auf einer Metaebene das Genre kommentieren bzw. seine Kernfrage diskutieren, ob nämlich Identität mehr ist als eine Denkfigur. Und es gibt jene schnell geschriebenen, kurzlebigen Publikationen, die das Leben eines Prominenten präsentieren, häufig in enger Zusammenarbeit mit diesem entstehend, und vor allem dessen Selbstinszenierung fortschreiben. – So groß der Variantenreichtum der Biographik (und biographische Darstellungen in anderen Medien wie etwa Film, Oper oder Comic sind hier noch gar nicht erwähnt), so deutlich die Konzentration auf den gemeinsamen Gegenstand: Die Biographie berichtet vom Leben einer realen Person (manchmal auch: mehrerer). Entsprechend werden Biographien mit der Erwartung rezipiert, dass man als Leser keine vom Biographen erfundenen Erlebnisse präsentiert bekommt, sondern eine möglichst nah am tatsächlichen Geschehen orientierte, wahrscheinliche Geschichte. Biographien sollen etwas über die Voraussetzungen und Begleiterscheinungen jener besonderen Leistungen berichten, für welche die thematisierte Person bekannt ist, oder über eine historische Epoche, die sich im Lebensweg des Biographierten spiegelt bzw. deren Repräsentant er zu sein scheint. Sieht man einmal von persönlichen Beziehungen ab, so interessieren wir uns für das Leben anderer häufig dann, wenn es Antworten auf die Frage nach einem ›guten Leben‹ verspricht: wie es aussieht, welcher Weg dorthin führt oder welcher gerade nicht.

Dem Erfolg des Genres kann man sich möglicherweise ausgehend von der Doppelbedeutung des Wortes Biographie nähern. Denn damit ist ja nicht nur die mediale Repräsentation eines fremden Lebens gemeint, sondern auch das Leben selbst. Jeder, der eine Biographie liest, lebt selbst eine. Indem Biographien den Einzelnen auch immer in seinem Mensch-Sein und Mensch-Werden zeigen, kommt ihnen eine anthropologische Dimension zu. Biographisches Schreiben oszilliert zwischen dem Allgemein- Menschlichen und dem Individuell-Besonderen, zwischen Distanz und Identifikation, zwischen Authentizität und Inszenierung. Die historisch spezifischen Ausprägungen der Biographik pendeln dabei seit jeher zwischen zwei Polen: Differenz einerseits und Anschlussfähigkeit andererseits. Die Darstellung des anderen Lebens fordert den Leser zum Abgleich mit dem eigenen auf. So wird ihm eine Geschichte präsentiert, die es ihm ermöglicht, sich in den geschichtlichen Horizont hineinzutasten.

Und zu guter Letzt erzählen Biographien im Idealfall spannende Geschichten, die die Neugier nach Details aus dem Leben anderer befriedigen. Denn Biographien sind schließlich immer auch Erzählungen, also vom Autor durch Selektion und Kombination einzelner Motive narrativ gestiftete Sinnzusammenhänge. Das ist Chance und Risiko zugleich: Risiko, weil mit biographischem Erzählen lange Zeit ein Gestus der Allwissenheit und Unabänderlichkeit verbunden war, als hätte der Biograph den zwingend gültigen Strukturplan entdeckt, dem folgend jedes Lebensdetail notwendigerweise aus dem anderen hervorginge. Dabei nutzte der Biograph in solchen Fällen häufig seine vorgefertigten Erklärungsmuster wie eine Art Magneten, mit dessen Hilfe sich die Metallspäne des Lebens einfach in einer bestimmten Anordnung aus­richten mussten. Solches Vorgehen überging Brüche und Widersprüche und (re)produzierte eher idealtypische Lebensentwürfe, als dass es individuellen Lebenswegen gerecht wurde. Gleichzeitig setzte es die Leser, deren eigenes Leben sich nur in Ausnahmefällen so kohärent und planvoll entwickelte, unter Druck. Daraus nun aber zu folgern, dass Biographen nicht mehr bestrebt sein sollten, Zusammenhänge aufzuzeigen und Linien nachzuzeichnen, hieße, ein konstitutives Merkmal verabschieden zu wollen – denn die Chance biographischen Erzählens liegt eben gerade im Schlagen von Schneisen durch das Dickicht des Lebens. Die gezogenen Linien müssen ja keineswegs gerade sein, sondern können kurvig und von Brüchen und Neuanfängen bestimmt ausfallen. Die Erkenntnisse der theoretischen Reflexion sollten in die Erzählung und ihre Struktur selbst mit einfließen. So kann der Biograph durchaus offensiv damit umgehen, dass er selektiert und organisiert, er sollte aber gleichzeitig die Prinzipien offenlegen, die Selektion und Organisation leiten. Auf diese Weise wird dem gegenwärtigen Theoriestand Rechnung getragen, demzufolge die präsentierte Darstellung nur eine unter vielen anderen möglichen sein kann, und gleichzeitig wird deutlich gemacht, warum die vorliegende Erzählung schlüssig und sinnvoll ist.

Die Biographie bewegt sich auf verschiedenen Feldern und changiert zwischen Wissenschaft, Literatur und Populärdiskurs – das macht glei­chermaßen ihren Reiz aus wie es Anlass für Skepsis ist. Gerade auf die Wechselbeziehungen zwischen dem gelesenen und dem gelebten Leben gehen die wissenschaftlichen Erklärungsversuche ein, die sich des Gen­res annehmen und dann wahlweise zum Beispiel ihre didaktische oder identitätspolitische Dimension betonen. Deutlich wird dabei immer auch, dass schon die Auswahl des biographischen Objekts diskursiven Regeln und spezifischen Ausschließungsmechanismen folgt. Das Abstrakt-Gesellschaftliche wird in der Biographie ganz konkret persönlich erfahrbar und so kann die Schilderung eines Einzelschicksals durchaus politische Wirkung entfalten – was man ggf. zu unterdrücken versucht.

Spätestens seit der Jahrtausendwende hat die theoretische Beschäftigung mit Biographien auch im deutschsprachigen akademischen Betrieb (wieder) Fuß gefasst. So findet sich inzwischen eine Reihe von Publikationen, die versuchen, das Feld biographischen Arbeitens systematisch zu erschließen.[1]Die Beiträge dieses Heftes wollen und können hier selbstredend auch in ihrer Summe nicht konkurrieren. Sie können das biographische Feld nicht erschöpfend ausloten, aber sehr wohl eine ge­wisse Vielgestaltigkeit an Annäherungsmöglichkeiten und Perspektiven andeuten: So finden sich Beiträge, die aus der (verlegerischen, literaturkritischen oder biographischen) Praxis Grundfragen biographischen Schreibens diskutieren. Einige Beiträge widmen sich aus theoretischer Perspektive den Chancen und Grenzen des Genres, also der Frage, was Biographien leisten können, andere verdeutlichen, worin die Möglich­keiten einer analytischen Beschäftigung mit Biographien bestehen, welche Erkenntnisse also die Biographieforschung zeitigt. Gleichzeitig wird aufgrund der vertretenen Fachdisziplinen deutlich, dass biographisches Arbeiten in vielen akademischen Disziplinen einen festen Stand hat. Das bedeutet im einzelnen:

Detlef Felken, Cheflektor des C.H.Beck-Verlags und Kenner der Buchmarktszene, zeichnet den Wandel der Anlage von Biographien und der an sie herangetragenen Erwartungshaltung nach und präsentiert fünf Gründe für die Beliebtheit der Biographie auf dem Buchmarkt.

Der Hauptmann-Biograph und Germanist Peter Sprengel thematisiert im Kontext der Auseinandersetzung mit zentralen Beispielen der Hauptmann-Biographik Kernfragen, die bei der biographischen Praxis bzw. der analytischen Beschäftigung mit Biographien immer wieder auftauchen, etwa: Wie geht man mit der Selbst-Inszenierung des Au­tors um? Wie gewichtet man Werkanalyse und Lebensdarstellung? Wie strukturiert man die Erzählung?

Karin Hellwig arbeitet in einem großen historischen Bogen, den nur die Kunsthistorikerin zu schlagen vermag, die Entwicklung der Dürer-Biographik heraus und erläutert die Funktionen der Biographien in ihrer jeweiligen Zeit. Dabei wird ersichtlich, wie stark biogra­phische Darstellungen mit den vorherrschenden Idealen persönlicher Größe und Künstlerschaft interagieren. Gleichzeitig wird auch die disziplinäre Funktion der Biographik im Kontext der Kunstgeschichte erkennbar.

Der Anglist Volker Depkat geht am Beispiel der Biographien zu Benedict Arnold, dem ersten und größten Verräter der US-amerikanischen Geschichte, der Frage nach, welche Rolle Biographien als Akte sozialer Kommunikation in den geschichts- und identitätspolitischen Selbstverständigungsdebatten der USA spielten. Das jeweilige Erkenntnisinteresse der Biographen ist, so wird herausgearbeitet, stets lebensweltlich und historisch gebunden.

Der Historiker Thomas Etzemüller analysiert die Regeln des Genres und beschreibt eine paradoxe Konstellation, die konstitutiv für die Biographie ist: das Wechselspiel zwischen Dezentrierung und Kohärenz, zwischen Identität und Fragmentarisierung. Etzemüller zeigt die Gren­zen des Genres auf, wenn er sich mit den Möglichkeiten einer ›Anti-Biographie‹ befasst.

Im abschließenden Interview gewährt Hubert Winkels einen Einblick in das Verhältnis von Literaturkritik und Biographie und erläutert, was ›die gute Biographie‹ ausmacht, was sie vom Roman unterscheidet und was Biographien ihren Lesern bieten können.

So facettenreich das Angebot an Biographien ist, so unterschiedlich nä­hern sich also die vorliegenden Beiträge ihrem Gegenstand. Deutlich wird auf diese Weise hoffentlich nicht nur, wie intensiv, differenziert und lebendig biographisches Arbeiten diskutiert wird, sondern auch wie komplex und spannend die Biographie als Textsorte ist. Inwieweit die Biographie unbedingt zum Kernbestand des »Arsenals der anderen Gattungen« zu zählen ist, sollte im Anschluss an die Lektüre diese Heftes ein wenig klarer geworden sein.

Christian Klein
Wuppertal im Juni 2013

Für das vorliegende Heft von Non Fiktion hat erstmals ein Herausgeber außerhalb des Projektzusammenhangs der Sachbuchforschung die alleinige Verantwortung übernommen. Wir verstehen diesen Schritt als Öffnung der Zeitschrift für interdisziplinäre Forschungszusammenhänge, die auf die eine oder andere Weise zu nicht-fiktionalen Genres arbeiten. Christian Klein und den Autorinnen und Autoren danken wir sehr herzlich für ihr Interesse und ihre Bereitschaft Non Fiktion in diesem Sinne zu bereichern.

David Oels, Michael Schikowski, Ute Schneider und Erhard Schütz


[1] Stellvertretend seien hier lediglich genannt: Die Biographie – Zur Grundlegung ihrer Theorie. Hrsg. v. Bernhard Fetz. Berlin, New York: de Gruyter 2009 sowie Handbuch Biographie. Methoden, Traditionen, Theorien. Hrsg. v. Christian Klein. Stuttgart, Weimar: Metzler 2009. 10