Forschung

Univ.-Prof. Dr. Christian Tedjasukmana

 

Aufmerksamkeitsstrategien des Videoaktivismus im Social Web
 
Forscher*innengruppe an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, der Rheinischen Friedrich Wilhelm-Universität Bonn und der Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF, gefördert aus Mitteln der VolkswagenStiftung

 
In den Sozialen Medien ist eine neue Macht des bewegten Bildes entstanden: Videos auf Youtube, Facebook, TikTok und anderen Plattformen werden jeden Tag milliardenfach angeklickt, und jede Minute strömen Hunderte Stunden weiterer Bewegtbilder hinzu. Zugleich haben sich Videos zu einem einflussreichen Mittel der politischen Kommunikation entwickelt, weil sie Botschaften schnell und effektiv verbreiten, ihr Publikum emotional bewegen und es zum Handeln motivieren, etwa zum Spenden, Protestieren oder Wählen.

Dass extremistische Organisationen wie der IS und populistische Politiker*innen wie Trump diese Macht bewegter Bilder mit erschreckenden Erfolgen nutzen, wird viel diskutiert. Weniger bekannt ist dagegen der „Videoaktivismus“ zivilgesellschaftlicher Akteur*innen, denen es um demokratische Teilhabe, um humanitäre oder ökologische Anliegen geht. Dazu gehören etwa Einzelpersonen wie Rezo, NGOs wie Greenpeace, Videokollektive wie Leftvision, Künstlergruppen wie Peng!, Bewegungen wie Black Lives Matter oder Fridays for Future. Um auf ihre Anliegen aufmerksam zu machen und Gegenöffentlichkeiten zu bilden, müssen sie sich in der umkämpften Aufmerksamkeitsökonomie des Social Web gegen Unterhaltung, Propaganda und PR durchsetzen. Dazu entwickeln sie neuartige Strategien der Herstellung und Verbreitung politischer Videos, vor allem aber auch ihrer Gestaltung in neuartigen und vielfältigen Formen, die zu ihrer Verbreitung im Netz beitragen.

Diesem Videoaktivismus aus der Zivilgesellschaft wenden sich Jens Eder (Filmuniversität), Britta Hartmann (Bonn), Chris Tedjasukmana (Mainz) und Tobias Gralke (Bonn/Berlin) zu. Im Projekt „Aufmerksamkeitsstrategien des Videoaktivismus im Social Web“ (gefördert von der VolkswagenStiftung 2018-2023) untersuchen sie neue Videoformen, Distributionsweisen und Produktionsallianzen in der Konkurrenz um öffentliche Wahrnehmung und politische Wirkung. Am Beispiel des Videoaktivismus zeigen sich Chancen und Risiken Sozialer Medien besonders deutlich. Ein Ziel des Projekts besteht darin, über diese Entwicklungen aufzuklären und zur Medienkompetenz beizutragen.

Die bisherigen Ergebnisse fasst das kürzlich erschienene Buch Bewegungsbilder. Politische Videos in Sozialen Medien (Bertz & Fischer 2020) knapp und verständlich zusammen; erstmals bietet es einen Überblick über das Feld politischer Videos. Auf der Website erscheinen zudem regelmäßig aktuelle Video-Analysen und Informationen für Interessierte.
 
https://videoactivism.net/de/
 
 

Laura Katharina Mücke, M.A.

 

Dissertationsprojekt: Anti | Immersion. Eine kritisch-diskursive Annäherung an die ‚all-inclusiveness“ medialer Erfahrungsbegriffe (AT)
 
Betreuung: Prof. Dr. Lisa Gotto (Universität Wien), Prof. Dr. Julian Hanich (Universität Groningen)

 

In der zeitgenössischen Begeisterung für die immersiven Möglichkeiten medialer Erfahrung, in der der unmittelbare Kontakt zwischen Medium und Nutzer*in schier unabdingbar scheint, ist das Potenzial eines dazu gegenteiligen Prozesses in den Hintergrund gerückt: der Faktor der Distanznahme – oder gar: die Möglichkeit, sich diesen Erfahrungen zu verweigern. Mit der Betitelung ‚Anti | Immersion‘ wird mit dieser Arbeit ein neuer Zugang zum schier omnipotenten Erfahrungsbegriff der Immersion vorgeschlagen, der dem näheerzeugenden Prozess der Immersion die politisch motivierte Frage der gleichzeitigen Schaffung von Distanz angliedert.
 
Die Arbeit geht davon aus, dass sowohl die Vorstellung von Anti-Immersion als auch jene von Immersion als verinnerlichte und hochgradig polarisierende Glaubenssätze über Medienwirkungen auf Nutzer*innen ko-agieren: Sie polarisieren im Hinblick auf die gleichzeitigen Möglichkeiten, die Medien bieten, und im Anbetracht der Befürchtungen, die über die Wirksamkeit von Medien per se kursieren. Und es sind stets sowohl Anti-Immersionsvorstellungen als auch Immersionvorstellungen, die in unserem Denken und Sprechen über Medienwirkungen koexistieren. Das Projekt schlägt deshalb eine Analysemethode vor, die „Immersion“ stets in ihren ganz konkreten diskursiven Situiertheiten aufsucht und dabei fragt: Wer redet eigentlich warum, wann, wo, und im Bezug auf was oder wen darüber, dass eine Medienerfahrung immersiv „ist“? Denn: Warum ein Medium als immersiv erscheint, ist nicht nur von den Dispositionen der Nutzenden oder dem medialen Dispositiv abhängig, sondern auch davon, welche Ästhetiken Verwendungen finden, die wiederum auf Vorstellungen darüber basieren, wie Medien wirken sollen (oder nicht sollen). Dass dabei sowohl Anti-Immersion als auch Immersion als Diagnosebegriffe von Verhältnissen zwischen Nutzer*innen und Medien (und von Nutzer*innen untereinander) fungieren, legt die Arbeit im Heranziehen von Zuschauer*innenerfahrungen in ganz verschiedenen Mediensituationen offen.
 
Eine Fallstudie untersucht Erfahrungsberichte von Nutzer*innen des frühen deutschen Films/Kinos (1907-1912) und zeigt dort etwa, wie stark über Immersionserfahrungen (und dargestellte Immersionserfahrungen) Beschreibungsbegriffe entwickelt wurden, die heute noch zur Gesetzgebung im Umgang mit Medien beitragen. Und wie dort insbesondere Frauen, Kinder, Arbeitslose oder Migrant*innen als besonders ‚anfällig‘ für Immersionen verstanden wurden. Eine andere Fallstudie analysiert, was es überhaupt heißen kann, sich „dem Medium“ bzw. „der Medienerfahrung“ zu verweigern, insbesondere dort, wenn aus der Verweigerung eine Rückversicherung der eigenen Identität im Angesicht des Mediums entsteht. Eine dritte Fallstudie spürt Glaubenssätze über Medienwirkungen in sogenannten „Social Media Immersions“ auf TikTok auf, wo Immersion und Anti-Immersion nicht nur als Wirkmechanismen von Algorithmen, sondern auch als ästhetische Gestaltungsformen und Nutzerbindungsprozesse bzw. Öffentlichkeitsformierungen angeeignet werden.
 
Die Arbeit rückt damit die ontologischen Diskussionen um „filmische“ bzw. „mediale“ Erfahrungen als „Kunsterfahrungen“ stärker in die Richtung der Frage nach dem längst koexistenten Ineinandergreifen von Ästhetischen Erfahrungen mit Alltagserfahrungen – bei gleichzeitiger Anerkennung der spezifischen Gerahmtheit (frame), die Medien in Bezug darauf mit sich bringen, wie sie uns als „Wirklichkeit“ und „Unwirklichkeit“ zugleich erscheinen. Für die Kritik an der bisherigen Begriffsbildung zur Immersion bedeutet das einerseits, vermeintlich selbsterklärende Begriffe des Sprechens über Medienerfahrungen zu hinterfragen. Es bedeutet aber auch – und hierin soll der zentrale Gewinn der Arbeit liegen – Medienerfahrungsbegriffe per se als politisch informierte (und nicht universal agierende) Sprechweisen der Verortung im Alltag und in den Lebenswelten der Nutzer*innen ernst zu nehmen.