Schaftlose Primel

Farbenfrohe Frühlingsboten - verwilderte
Kissenprimeln im Arboretum des Botanischen
Gartens (09.03.2015).

Primula vulgaris Huds.

Bereits Anfang März, wenn noch fast alle Beete kahl sind und außer Haseln und Erlen nur wenige Ziergehölze blühen, beginnt im Arboretum des Botanischen Gartens ein Schauspiel, das man so in unserer Region kaum kennt. Die unzähligen, verwilderten Primeln öffnen nun ihre ersten Blüten. Bis Ende März sind große Flächen des parkartigen Baumbestands mit gelb blühenden, lila, violett oder weiß blühenden Primeln bedeckt. Es handelt sich hierbei zunächst ausschließlich um Formen der Schaftlosen Primel (Primula vulgaris), die vielen auch als Kissenprimel oder als "Primula acaulis" bekannt sein dürfte. Später kommen dann auch die Hohe Schlüsselblume (Primula elatior), die Wiesen-Schlüsselblume (Primula veris) und verschiedene Hybriden zwischen diesen drei Arten hinzu.

Die Schaftlose Primel ist in unserer Region nicht heimisch. Sie kommt in Deutschland vor allem in Schleswig-Holstein und vereinzelt im Alpenvorland vor. Ihr Hauptverbreitungsgebiet liegt zum einen weiter westlich und reicht dort von den atlantisch geprägten Küstengebieten Norwegens über die Britischen Inseln, die Niederlande, Belgien und Frankreich bis nach Nordspanien und Portugal. Es erstreckt sich von Südfrankreich aber auch über Italien, Südosteuropa, den Balkan und die Türkei bis in den Osten des Schwarzen Meeres und weiter bis in den Iran. Bei einem so ausgedehnten Verbreitungsgebiet ist es nicht verwunderlich, dass die Schaftlose Primel eine gewisse Variabilität zeigt, die in der Vergangenheit zur Aufteilung in verschiedene Arten oder zur Unterteilung in bis zu acht Unterarten geführt hat.

In Westeuropa ist das Erscheinungsbild der wild vorkommenden Primula vulgaris allerdings sehr einheitlich. Alle diese Pflanzen haben blass gelbe Blüten und unterscheiden sich auch in den übrigen Merkmalen kaum. Anders sieht es im Osten des Verbreitungsgebietes aus: Von Bulgarien und Griechenland über den Norden der Türkei und vor allem im östlichen Schwarzmeergebiet und im Iran kommen auch polychrome Populationen vor. In diesen findet man Pflanzen mit blassgelben, weißen, rosafarbenen, violetten und purpurroten Blüten nebeneinander. Solche Populationen werden häufig als eigene Unterart Primula vulgaris ssp. sibthorpii eingestuft. Sie sind schon zu Beginn des 17. Jahrhunderts aus türkischen Gärten als Zierpflanzen bei uns eingeführt worden. Sie werden auch als Karnevalsprimeln bezeichnet. Ein großer Teil der bei uns im Arboretum verwilderten Primeln gehört wohl in diese farbenreiche und besonders früh blühende Gruppe der Schaftlosen Primeln.

Nach neuen molekularen Untersuchungen der verschiedenfarbigen Primel-Populationen im Bereich des Schwarzen Meeres gibt es aber offenbar keine Grundlage, hier von verschiedenen Unterarten oder gar Arten zu sprechen. Außer der Blütenfarbe gibt es keine Unterschiede zwischen diesen Pflanzen, und die Muster der genetischen Variation decken sich nicht mit den unterschiedlichen Blütenfarben. Vielmehr spiegeln sie die nacheiszeitliche Ausbreitung der Pflanzen aus verschiedenen Refugialgebieten wider. Die polychromen Populationen entstanden möglichweise beim Aufeinandertreffen dieser verschiedenen Ausbreitungslinien.

Die östlichen Vorkommen der Schaftlosen Primeln haben auch eine wichtige Rolle in der Züchtung der heutigen, großblütigen und intensiv gefärbten Kissenprimeln gespielt, die oft schon im Dezember in großen Mengen als Topfpflanzen vermarktet werden. Die modernen Zuchtlinien dieser Kissenprimeln sind überwiegend sogenannte F1-Hybriden. Für die Auswilderung im Garten sind sie in der Regel nicht oder kaum geeignet. Dagegen werden die alten robusten Sorten, die sich im lichten Gehölzbestand gut etablieren lassen, leider kaum mehr angeboten.

Die frühen Schaftlosen Primeln, die jetzt im Arboretum des Botanischen Gartens blühen, sind nicht nur eine Freude für das Auge. Sie haben auch eine spannende Blüten- und Ausbreitungsbiologie. Die Blüten werden um diese Zeit vorwiegend von Hummeln besucht. Zur Bestäubung kommt es aber in der Regel nur, wenn unterschiedliche Blütenformen besucht werden. Bei den Primeln gibt es Pflanzen, deren Blüten einen langen Griffel und tief sitzende Staubblätter haben (langgriffelige Form, engl. Pin), und andere Exemplare, bei denen diese Anordnung umgekehrt ist: also kurze Griffel und hoch in der Blütenkrone sitzende Staubblätter (kurzgriffelige Form, engl. Thrum). Man kann den Unterschied leicht erkennen, und auch hier auf den Fotos ist er teilweise gut zu sehen. Zur Bestäubung muss Pollen von einem Blütentyp auf den anderen Blütentyp übertragen werden. Es ist ein einfaches System um Selbstbestäubung zu vermeiden. Da es auf unterschiedlicher Länge des Griffels (Stylus) beruht, wird es als Heterostylie bezeichnet. Charles Darwin hat dieses Phänomen an Primeln als einer der ersten ausführlich untersucht und 1862 und 1877 wissenschaftlich beschrieben. Es gibt in diesem Fall zusätzlich auch noch genetische Barrieren, die nach der Bestäubung eine Selbstbefruchtung verhindern können.

War die Bestäubung erfolgreich, reifen ab Ende April die 6-10 mm langen Kapselfrüchte heran. Wenn die Früchte Anfang Juni reif sind, hat sich der Blütenstiel nach unten gebogen, so dass sich die Kapseln direkt am Boden öffnen. Jede Kapsel enthält ungefähr 40 Samen, die nur etwa 1,5 mm groß sind und an einem Ende einen kleinen weißen Futterkörper, ein sogenanntes Elaiosom, tragen. Durch diesen Futterkörper werden Ameisen angelockt, die einen Teil der Samen einsammeln und in ihren Bau schleppen. Dort keimen sie im folgenden Frühjahr. Auf diese Weise werden die Pflanzen über kurze Distanzen ausgebreitet. Die Samen werden aber auch von Mäusen und Wühlmäusen gesammelt und dadurch über eine etwas größere Distanz von einigen Metern ausgebreitet. Durch diese unterschiedlichen Akteure erklärt sich die truppweise Verteilung der Primeln im Arboretum. Und damit haben wir dann auch endlich mal eine sinnvolle Beschäftigung für die Wühlmäuse im Botanischen Garten benannt.


Charles Darwins (1877) Abbildung zur Heterostylie bei Primeln. Aus der Broschüre unserer Ausstellung Darwins Garten - Evolution entdecken (2009).

 

Systematik Primulaceae (Schlüsselblumengewächse)
Heimat Atlantisches Westeuropa von Norwegen bis Portugal, Mittelmeergebiet einschließlich Nordafrika, Norden der Türkei und östliches Schwarzmeergebiet bis in den Iran.
Standort Arboretum

Literatur

Darwin C. (1877). Die verschiedenen Blütenformen der nämlichen Arten. Schweizerbart, Stuttgart.

Jacquemyn, H., P. Endels, R. Brys, M. Hermy & S.R.J. Woodell (2009). Biological Flora of the British Isles: Primula vulgaris Huds. (P. acaulis (L.) Hill.). Journal of Ecology 97: 812-833.

Köhlein, F. (2008). Heimische Primeln im Garten. Gartenpraxis 04-2008: 8-13.

Krausch, H.D. (2003). “Kaiserkron und Paeonienrot …” Entdeckung und einführung unserer Gartenblumen. Dölling und Gallitz, München und Hamburg.

Richards, J. (1989). Primulas of the British Isles. C.I. Thomas and Sons, Aylesbury, UK.

Shipunov, A., Y. Kosenko & P. Volkova (2011). Floral polymorphism in common primrose (Primula vulgaris Huds., Primulaceae) of the Northeastern Black Sea coast. Plat Syst Evol 296: 167-178.

Volkova, P.A, I.A. Schanzer & I.V. Meschersky (2013). Colour polymorphism in common primrose (Primula vulgaris Huds.): many colours – many species? Plant Syst Evol 299: 1075-1087.

Text und Fotos: Ralf Omlor | 27.03.2015