Mainzer Geographische Studien, Heft 15:

Waldt, Hans-Otto: Sonderkulturen in Venezuela - Eine agrargeographische Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung der Standortproblematik.

 

Zusammenfassung und Ausblick

Bis in die ersten Jahrzehnte unseres Jahrhunderts galt Venezuela als eines der ärmsten Länder Lateinamerikas. Erst seit 1914 begann der heute überragende Wirtschaftsfaktor, das Erdöl, Bedeutung zu erlangen. 1926 überstieg der Exportwert des Erdöls zum ersten Mal den der bislang vorrangigen Agrarprodukte, ein Umbruch, der das gesamte wirtschaftliche und soziale Leben völlig umstrukturieren sollte.

Diese Jahre brachten einen Strom von hochqualifizierten Arbeitskräften ins Land, und zwar regional eng begrenzt auf die Gebiete der beginnenden Erdölförderung am Ostufer des Maracaibo-Sees. Da die einheimische Landwirtschaft weder den Konsumgewohnheiten noch den Qualitätsanforderungen dieser Konsumentengruppe Entsprechendes anzubieten hatte, mußte die Versorgung des Personals mit Lebensmitteln aus deren Heimatländern erfolgen. Obst und Frischgemüse ließen sich auf diesem Wege allerdings nicht beschaffen, da diese Produkte den langen Schiffstransport nicht überstanden.

Diese Marktlücke wurde schon bald von einem deutschen Einwanderer erkannt und geschlossen. Da das Hinterland von Maracaibo aufgrund seines tropischen Tieflandklimas den Gemüsebau nicht gestattete, begann er in über 300 km Entfernung in einer klimatisch geeigneten Höhenstufe der Anden im Tal des Motatán mit dem Anbau dieser Kulturen.

Etwa zur gleichen Zeit setzte der Gemüsebau auch in der Nähe der Hauptstadt Caracas ein. Die klimatische Gunst des Raumes, mit annähernd 1.000 m an der Untergrenze der Tierra templada gelegen, ermöglichte hier die Ansiedlung der Bauern, unter denen sich sehr viele Chinesen befanden, auf dem Hochtalboden in der direkten Umgebung der Stadt.

Andere Märkte, die nicht aus ihrem eigenen Umland versorgt wurden, konnten von diesen beiden ersten Anbaugebieten damals noch kaum beliefert werden, da die Verkehrswege im allgemeinen in so schlechtem Zustand waren, daß das Gemüse während des erforderlichen langen Transportes bereits auf dem Wege dorthin verdorben wäre. Aus dem gleichen Grund blieb der Gemüsebau auch während der folgenden 10 Jahre noch auf diese jeweils marktnächsten Standorte beschränkt. Erst mit dem Ausbau und der Verbesserung der Verkehrswege, der Weiterentwicklung der Transportmittel und daraus resultierend der Verringerung der Wegzeiten wurde es möglich, den Anbau dieser leicht verderblichen Produkte auch weiter entfernt vom Absatzort aufzunehmen.

In mehreren der seit 1936 neugegründeten Agrarkolonien östlich des Valenciasees konnte daraufhin mit dem Gemüsebau begonnen werden. Vor allem der Anbau von Zwiebeln erlangte hier bald eine große Bedeutung.

Richtig setzte die Ausbreitung der Sonderkulturen jedoch erst mit dem allgemeinen Aufschwung der venezolanischen Wirtschaft zu Beginn der 50er Jahre ein. Dies muß zum Teil darauf zurückgeführt werden, daß seit der Reorganisation der Agrarkolonisation im Jahr 1949 eine Reihe äußerst erfolgreicher Ansiedlungsprojekte geschaffen wurde. Diese Entwicklung wurde jedoch noch übertroffen durch die ungelenkte Niederlassung Einzelner oder geschlossen siedelnder Gruppen europäischer Einwanderer.

In der Umgebung der Hauptstadt wandten sich jetzt vor allem Portugiesen dem Gemüsebau zu. Da sie auf Pachtland wirtschaften und somit dem Boden das Äußerste abringen mußten, um über die hohen Pachtpreise hinaus noch einen eigenen Profit zu erzielen, betrieben sie in ihren Kolonien am Stadtrand auf kleinsten Parzellen einen höchst arbeitsintensiven Gartenbau, für den sie Gemüsearten möglichst kurzer Vegetationszeit auswählten, die eine rasche Aufeinanderfolge der Ernten, einen optimalen Einsatz der Arbeitskraft und eine maximale Ausnutzung der Fläche ermöglichten. Diesen Kolonien war jedoch im allgemeinen nur eine kurze Blütezeit beschieden, denn die ständig vorrückenden Wohn- und Gewerbegebiete verdrängten sie schon nach wenigen Jahren von ihren ursprünglichen Standorten und zwangen die Gemüsebauern, sich an der Peripherie der intensiv genutzten Stadtrandzone neue Flächen zu erschließen.

Völlig abweichend von dieser Entwicklung verlief die Ausweitung der Kulturflächen in den übrigen Landesteilen. Dort waren es überwiegend Spanier, in Einzelfällen auch Italiener und Deutsche, die im Gegensatz zu den Portugiesen in Mittel- und Großbetrieben kapitalintensiv wirtschafteten.

An zahlreichen Stellen entstanden seither neue Gemüse- und Kartoffelanbaugebiete. In den westlichen Ausläufern der Küstenkordillere blühte jetzt die bereits 15 Jahre vorher gegründete Kolonie Chirgua auf. Durch den Ausbau der von Valencia nach Barquisimeto führenden Straße wurden auch um Bejuma, Miranda und Nirgua neue Produktionsgebiete erschlossen. Eine enorme Ausweitung erlebten in dieser Zeit ebenfalls die Anbaugebiete der Anden. War die Marktproduktion von Gemüse und Kartoffeln bisher auf das Tal des Motatán beschränkt, so trugen vor allem die Isleûos diese Kulturen in der Folgezeit ebenfalls in andere Talschaften vor, sofern diese die erforderlichen Voraussetzungen für eine kapitalintensive Produktion boten. In den frühen 50er Jahren blieb deren Anbau noch auf die verkehrsmäßig gut erschlossene innerandine Längstalzone beschränkt. Erst mit dem späteren Ausbau des Straßennetzes drang vor allem der Kartoffelbau weit in einzelne Seitentäler vor und stellt heute auch dort das beherrschende Element der Agrarlandschaft dar. Einen besonders starken Aufschwung erlebte der Kartoffelbau dabei in den nordöstlichsten Andenausläufern im Staate Lara, da jene nicht mehr derart ausgeprägte Reliefunterschiede aufweisen wie die Hochanden und daher gerade für einen großflächigen, mechanisierten Anbau von Kartoffeln hervorragende Voraussetzungen bieten.

Noch einschneidender als im Kartoffelbau hat sich das Auftreten kapitalkräfiger Großbetriebe in der Zwiebel- und Tomatenproduktion ausgewirkt. In der zweiten Hälfte der 30er Jahre hatte sich in den Staaten Aragua und Carabobo ein Anbauschwerpunkt dieser Kulturen abgezeichnet. Durch die zahlreichen Siedlungsneugründungen in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg war dieser Prozeß noch verstärkt worden. Nicht selten hatten sich in deren unmittelbarer Nähe Gruppen von Spaniern und Portugiesen niedergelassen und sich hier auf den wenigen Hektar Land, die ihnen vom Staat zur Bewirtschaftung überlassen worden waren, ebenfalls dem Anbau von Sonderkulturen gewidmet. Auf diese Weise kam es hier zu einem ersten Anbauschwerpunkt beider Kulturen, denn zu Beginn der 50er Jahre entstammte über die Hälfte der Zwiebel- und Tomatenproduktion des Landes den überwiegend kleinbäuerlichen Betrieben der Staaten Aragua und Carabobo, deren Anbauflächen sich wiederum auf die klimatisch begünstigte intramontane Ebene um den Valenciasee konzentrierten.

Diese Blüte währte jedoch nur kurze Zeit, denn gerade für jene thermophilen Gemüsearten boten sich in den Trockengebieten im Nordwesten des Landes noch günstigere Standorte. Die Erschließung dieser Flächen, vornehmlich durch Isleûos, führte zu einer Verlagerung des Schwerpunktes der Zwiebelproduktion kurz nach 1950 nach Lara und seit Mitte der 60er Jahre ebenfalls in den Staat Falcón. Während der 50er Jahre wurde auch die Tomatenproduktion im Staat Lara erheblich ausgeweitet. Der Anbau in den Trockengebieten erfordert jedoch eine äußerst kapitalintensive Betriebsführung, die aus Gründen der Rentabilität nur in Großbetrieben möglich ist. Da die herkömmlichen arbeitsintensiven Kleinbetriebe diesem Konkurrenzdruck auf die Dauer nicht standhalten konnten, ging die Zwiebel- und Tomatenproduktion in den bisherigen Anbauzentren kontinuierlich zurück.

Der Anbau von Zwiebeln und Tomaten hatte sich somit aus der Marktnähe entfernt und war gleichzeitig auf einen extensiveren Betriebstyp übergegangen, da die neuen Anbauregionen diesen Kulturen aufgrund spezieller ökologischer Gunstfaktoren bessere Wachstumsbedingungen boten, als sie an ihren bisherigen Standorten gefunden hatten. Die dort bei gleichem Betriebsmitteleinsatz erzielten höheren Erträge bzw. pro Ertragseinheit deutlich geringeren Produktionskosten erbringen Vorteile, die von den erhöhten Transportkosten nicht annähernd aufgezehrt werden. Bei den äußerst niedrigen Kraftstoffpreisen in Venezuela fallen die reinen Transportkosten sowieso kaum ins Gewicht. Daher sind heute in erster Linie Produktionskostenvorteile für den Standort der Sonderkulturen entscheidend. Auf keinen Fall tendiert die Entwicklung in Richtung auf eine engere Zuordnung von Erzeuger- und Verbrauchergebieten, so daß die Marktentfernung als standortbestimmender Faktor auch weiterhin an Bedeutung verlieren wird.

Betrachten wir die heutige Verbreitung der Sonderkulturen in Venezuela, so ist ihre enge Bindung an den Zug der Kordilleren besonders auffällig. Vom westlichsten Andenstaat ausgehend reihen sich die bedeutendsten Produktionsgebiete in den Talschaften des Gebirges in nordöstlicher Richtung aneinander, folgen dann dem west-östlichen Verlauf der Küstenkordillere, setzen dort mit dem Abbruch des Gebirges aus, finden dann aber im Osten des Landes, beim erneuten Anstieg des Kordillerenzuges, ihre Fortsetzung. Von dieser Bindung an den Gebirgsverlauf weichen die Anbaugebiete im Staat Falcón eindeutig ab. Die Produktion dieses Staates, der vom Zug der Kordillere nicht berührt wird, beschränkt sich fast ausschließlich auf Zwiebeln. Da aber Zwiebeln und Tomaten in den Trockengebieten ihre bevorzugten Standorte finden, ist diese Abweichung vornehmlich pflanzenphysiologisch bedingt. Auch in den Staaten Aragua und Carabobo ist in den letzen Jahren die räumliche Trennung in die höher gelegenen Kartoffel- und Gemüsegebiete und die Zone des Tomatenbaus um den Valenciasee vollendet worden. Im Staate Lara ist die regionale Differenzierung ebenfalls bereits aufgrund der naturräumlichen Gegebenheiten vorgezeichnet. Die sich noch bis in den Süden des Staates erstreckenden Andenausläufer tragen die Kartoffelflächen und umfassen halbkreisförmig die nach Norden geöffnete semiaride und aride Niederungszone, in der die bedeutendsten Zwiebel- und Tomatenproduktionsgebiete des Landes liegen. Damit wird dieser Prozeß der räumlichen Differenzierung aber noch nicht abgeschlossen sein, denn auch weiterhin wird die Verlagerung der Hauptanbauzonen einzelner Kulturen als eine konsequente Folge des Strebens nach optimaler Anpassung an die naturräumlichen Gegebenheiten und die unterschiedliche Eignung bestehender oder möglicher Räume für eine Mechanisierung der Landwirtschaft anhalten.

Da die bäuerliche Bevölkerung an ihren alten Verhaltensmustern festhält und selbst die einheimischen Gemüsebauern nur äußerst zögernd ihre Konsumgewohnheiten ändern, gelangt der weitaus größte Teil der Produktion auf die städtischen Märkte. In den Städten ist der größte Teil der Ausländer konzentriert, in deren täglicher Nahrung Frischgemüse oder Kartoffeln einen festen Platz einnehmen. Dort, in den Zentren des kulturellen, wirtschaftlichen und sozialen Wandels werden aber auch die überkommenen Wertnormen und Verhaltensweisen der Venezolaner am ehesten verändert. Eine ständige Beeinflussung der Bevölkerung über die Massenmedien sowie zahlreiche von der Regierung unterstützte Werbeaktionen für den Genuß von Obst und Gemüse haben ihren Teil zur Verbesserung der Ernährungsweise beigetragen. Nicht zuletzt sind es aber auch hier wiederum Gruppen der nach dem Krieg eingewanderten Europäer, die einen sehr starken Einfluß ausüben, denn seitdem die Italiener und Spanier sich auch im Gaststättengewerbe ausgebreitet haben, fehlen die Gemüsebeilagen oder der Salatteller bei keinem Essen im Restaurant. Und dennoch ist die Steigerung des Verbrauchs weniger auf den Bedarf der Gaststätten selbst zurückzuführen, als vielmehr darauf, daß aufgrund dieses ständigen Vorbildes sich auch bei der einheimischen Bevölkerung, soweit sie hierzu finanziell in der Lage ist, eine qualitativ anspruchsvollere Ernährungsweise eingebürgert hat.

Es kann daher als gesichert angesehen werden, daß weit über die Hälfte der gesamten Produktion des Landes in der Stadtregion von Caracas vermarktet wird, sind hier doch mit beinahe 2,2 Millionen Einwohnern nicht nur annähernd die Hälfte der gesamten großstädtischen Bevölkerung Venezuelas, sondern auch etwa 250.000 Ausländer ansässig (CENSO GENERAL DE POBLACION 1971). Hinter diesem überragenden Konsumzentrum stehen selbst die nächstgrößeren Märkte Maracaibo, Valencia, Barquisimeto und Maracay weit zurück. Der Osten des Landes schließlich ist in seiner Funktion als Absatzmarkt für Sonderkulturen von untergeordneter Bedeutung. Hier ist für die nächsten Jahre allerdings mit einer Nachfragesteigerung zu rechnen, wenn die Zahl der Ausländer und der gut bezahlten venezolanischen Arbeitskräfte mit dem weiteren Ausbau der Industrie in Ciudad Guayana weiterhin ansteigt.

War jedoch der Konsum von Gemüse und Kartoffeln während der 50er Jahre sprunghaft angestiegen, so nahm er im Verlauf des letzten Jahrzehnts nur noch abgeschwächt zu. Auch für die Zukunft wird nur mit einer leicht steigenden Nachfrage gerechnet werden können. Die Diskrepanz zwischen Angebot und Nachfrage hat bereits in den vergangenen Jahren mit den ersten Anzeichen einer Überproduktion auf die ernsthaften Schwierigkeiten einer weiteren Produktionssteigerung hingewiesen. Diese Absatzschwierigkeiten sind nicht nur die Folge der stark spekulative Züge tragenden Produktion besonders beim Tomaten-, Zwiebel- und Kartoffelbau, sondern sind vorwiegend auf die geringe Elastizität des Marktes zurückzuführen. Der Markt ist das Schlüsselproblem der venezolanischen Wirtschaft. Die einheimische Landwirtschaft produziert zu teuer, als daß sie auf dem internationalen Markt konkurrenzfähig wäre. Noch keiner der zahlreichen Versuche, selbst auf den US-amerikanischen Markt vorzudringen, ist über das Versuchsstadium hinaus gediehen. Um wieviel weniger ist es möglich, in die lateinamerikanischen Nachbarstaaten zu exportieren, über deren Grenzen der Schmuggel ins eigene Land hinein blüht? Venezuela ist auf seinen Binnenmarkt angewiesen.

Daher wird auch eine Ausweitung seiner Gemüseproduktion über den bisherigen Stand hinaus nur durch eine Vergrößerung des Binnenmarktes zu erreichen sein. Ohne gleich den Pro-Kopf-Verbrauch an Gemüse (ohne Berücksichtigung des Verbrauchs an Kartoffeln) in der BRD von 63 kg (BAYERISCHER AGRARBERICHT 1973, S. 86), bzw. in den Vereinigten Staaten von 150 kg jährlich (CORPOANDES 1971, S. 77) als auch nur entfernt realisierbar ansehen zu wollen, läßt ein Vergleich doch erkennen, welch eine enorme Steigerung noch möglich ist, stellt man ihm den Gemüsekonsum des Jahres 1971 von 18,4 kg/E. u. J. in Venezuela gegenüber. Dies wird aber nur dann zu erreichen sein, wenn es gelingt, die ländliche und marginale städtische Bevölkerung stärker in den Wirtschaftsprozeß des Landes zu integrieren, da nur die Steigerung der Kaufkraft einer breiten Schicht der Bevölkerung den Landwirten einen Absatz zu lohnenden und zur Aktivierung anregenden Preisen bietet.