Mainzer Geographische Studien, Heft 36:

Stadelbauer, Jörg: Kolchozmärkte in der Sowjetunion. Geographische Studien zu Struktur, Tradition und Entwicklung des privaten Einzelhandels.

 

ZUSAMMENFASSUNG DER ERGEBNISSE

Die Studie hat drei Ziele verfolgt:

  1. Mit den Kolchozmärkten sollte ein besonders facettenreiches Objekt der sowjetisch überprägten städtischen Kulturlandschaft in seinen räumlichen und organisatorischen Strukturen vorgestellt werden, das in der bisherigen Fachliteratur vorwiegend als "Anhängsel" an die Betrachtung des landwirtschaftlichen Privatsektors, weniger von seiner Einbindung in die innerstädtische Standortvergesellschaftung von Einzelhandel und anderen Dienstleistungen her betrachtet worden ist. Über diesen stadtgeographischen Ansatz hinaus muß die Studie den Bezug zwischen dem Marktsystem einerseits und der gesamtstaatlichen wie der regionalen Privatwirtschaft andererseits herstellen.
  2. Anhand dieses Objektes ‘Kolchozmarkt‘ sollten die Aussagefähigkeit unterschiedlicher Daten- und Quellengattungen sowie die Möglichkeiten empirischer Geländearbeit unter den bisher in der Sowjetunion für ausländische Wissenschaftler gegebenen, restriktiven Bedingungen getestet werden. Um diese arbeitstechnischen Ansätze aufzuzeigen, wurde ein relativ großes Gewicht auf die Dokumentation des Materials gelegt.
  3. Schließlich sollte das Objekt ‘Kolchozmarkt‘ dazu dienen, weiterreichende Aussagen über das Funktionieren von Versorgungsverflechtungen und von Wirtschaftsentwicklungen in dem bisherigen Sowjetsystem zu formulieren, dessen Überwindung wohl einen langwierigen Transformationsprozeß voraussetzt.

Keine dieser Aufgaben konnte umfassend bewältigt werden, das Ergebnis bleibt vorläufig:

  1. Aus der Vielzahl unterschiedlicher Märkte ist nur eine unvollständige Typologie zusammengestellt worden. Sie müßte durch Märkte in weniger gut versorgten Städten an der nördlichen und östlichen Peripherie der Sowjetunion, durch Märkte in weniger bedeutenden Städten und durch kleinere Stadtteilmärkte ergänzt werden. Die Einschränkungen, denen das Reisen in der Sowjetunion und die Geländearbeit über ein solches der etablierten geographischen Wissenschaft des Untersuchungslandes fremdes Objekt unterworfen war, haben eine derartige Ausweitung unmöglich gemacht.
  2. Zusätzlich zu dem verwendeten Quellenmaterial und zu den angewandten Arbeitstechniken müßten gezielte und systematische Befragungen von Händlern und Käufern genaueren Aufschluß über die Einzugsgebiete und über räumliche Verflechtungen geben. Sicher werden in Zukunft und in enger Zusammenarbeit mit sowjetischen Kollegen gemeinsame Projekte durchzuführen sein, die gerade mit den Methoden der empirischen Sozial- und Regionalforschung zu weiterführenden Fragen und Antworten kommen können.
  3. Die Sowjetwirtschaft befindet sich 1990/91 in einer tiefen Krise, die mit dem angestrebten Übergang zu marktwirtschaftlichen Mechanismen, aber auch mit innenpolitischen Machtkämpfen zusammenhängt. Die Kolchozmärkte sind "bunter" im Sinne der "bunten Märkte" (A. KATSENELINBOIGEN 1977) geworden. In ihrem Bereich haben sich informelle Machtstrukturen herausgebildet, die einer Konsolidierung dieses Standorttyps des innerstädtischen Einzelhandels entgegenstehen. Die Zukunft des einzelnen Marktes und seiner Strukturen mag deshalb etwas ungewiß erscheinen; die Zukunft des Marktwesens ist es angesichts der Versorgungsrealität in den Großstädten sicherlich nicht.

Die Tatsache, daß damit für den Augenblick kein vollständiges Bild entstehen kann, darf aber nicht über die generelle Bedeutung dieses Marktsystems hinwegtäuschen. Die Kolchozmärkte reflektieren nämlich wenigstens drei über das eigentliche Untersuchungsobjekt hinausreichende Prozesse:

  1. Zunächst gehen die Märkte in ihren Wurzeln auf vorsowjetische Formen einfacher Bauern- oder Händlermärkte zurück, knüpfen in den kaukasischen und mittelasiatischen Gebieten an die orientalischen Bazare an und verbinden damit handwerkliche, handelswirtschaftliche und soziale Phänomene. Insofern markieren sie sowohl den Entwicklungsstand der Güterdistribution als auch die ethnokulturellen Unterschiede innerhalb der Sowjetunion, die als Nationalitätsproblematik politischen Sprengstoff für die Zukunft der Union in sich bergen.
  2. Dann sind sie – auch wenn die Wurzeln weiter zurückreichen – ein Element der sowjetisch- sozialistischen Umgestaltung des Staates und unterliegen damit den ideologisch bedingten Schwankungen einer politischen Bewertung von Privatinitiative und Versorgungsaufgaben. Die Rechtssicherheit kann nicht von vornherein angenommen werden, sondern mußte sich erst herausbilden. Die Märkte zeigen aber auch die Weiterentwicklung des zunächst bescheidenen Privatsektors in der Landwirtschaft auf.
  3. Schließlich sind sie Ausdruck umfassender innerstädtischer Veränderungen sowohl in der baulichen Gestaltung wie in der funktionalen Einbindung in den Dienstleistungssektor; hier bietet sich ein Vergleich mit anderen städtischen Entwicklungsprozessen an, die systemunabhängig zu beobachten sind und die auf Modernisierung und Funktionalisierung, aber auch auf Rückgewinnung räumlicher Identität hinauslaufen.

Die Untersuchung hat darüber hinaus zu angestrebt, eine ökonomische Bewertung vorzunehmen, die sich als problematisch erwies. Das statistische Datenmaterial erlaubt zwar einige indirekte Schlüsse, läßt aber keine strengeren Folgerungen zu. Die bislang verfügbaren Daten machen deutlich, daß die Märkte sicher keine führende Rolle im innerstädtischen Handelsnetz einnehmen. Solange der Staatshandel beliefert werden konnte und einigermaßen funktionierte, spielten sie eine untergeordnete, das Angebot ergänzende und sicher auch für das soziale Umfeld des städtischen Lebens wichtige Rolle. Im Augenblick der Angebotsverknappung wächst diese Ausgleichsaufgabe jedoch ungleich rascher an, was sich sehr schnell in den Preisen und in der – im Rahmen dieser Untersuchung nicht weiter verfolgten, aber aus Gesprächen bekannten – Gefahr Abgleitens in den kriminellen Bereich zeigt. Die Preise wiederum sind in der Krise der Jahre 1990/91 zum Gegenstand politischer Auseinandersetzungen geworden, so daß gerade auch die Kolchozmärkte als recht sensible Indikatoren imstande sind, den sich anbahnenden Umbruch in der Sowjetunion sehr schnell widerzuspiegeln.

Noch schwerer als Preisentwicklung und Versorgungseffekte sind die Einkommenseffekte abzuschätzen, da im Mikrozensus der Sowjetunion Angaben nur für die Einkommen "aus der privaten Nebenwirtschaft" vorliegen, nicht jedoch für die Händlertätigkeit. Auch hier tragen Unwägbarkeiten wie erpreßte Zusatzabgaben an Händlerringe und Organisatoren der Platzvergabe oder die Existenz eines Zwischenhandels dazu bei, daß Schätzwerte, die aus einer Kalkulation der Nebeneinnahmen und der offiziellen Gebühren auf den Märkten abgeleitet werden, zu großen Unsicherheiten führen. Zwar ist der Kolchozmarkt als Institution vollständig legal, und bestimmt haben die Instruktionen der letzten Jahre diese gesetzliche Rechtsgarantie verstärkt, aber das Sozialsystem "Markt" ist vielschichtig und erschöpft sich nicht im Rechts- und Wirtschaftsbereich.

Die leitende Hypothese der Untersuchung, daß die Kolchozmärkte im Kleinen einige wesentliche Systemmerkmale der Sowjetunion erkennen lassen, daß sie sich eignen, einen Einblick in die Funktionsweise der Sowjetwirtschaft zu vermitteln, und daß sie sicher auch ein geeignetes Objekt für die Analyse momentaner Transformationsvorgänge sind, hat sich im wesentlichen bestätigt und kann durch das