Riga

Gedanken am lettischen Unabhängigkeitstag. Darf’s noch etwas Mayonnaise dazu sein?

Fackeln. Flaggen. Die Nationalhymne. Der Präsident spricht vor dem Freiheitsdenkmal. Und die Masse – schaut unbeeindruckt. Vielleicht sind einige ein wenig verklärt und besinnlich. Dann bewegen sich tausende von Menschen in Richtung Daugava, und um exakt 21 Uhr beginnt das Feuerwerk. Volkstümliche lettische Musik erklingt. Und plötzlich: Ein Anflug von Lachen, Staunen und Freude. Ein ungewohnter Anblick, bei diesen sonst eher zurückhaltenden, ja manchmal fast emotionslos wirkenden Letten. Sie feiern ihren Nationalfeiertag: den Unabhängigkeitstag.

In den letzten dreieinhalb Monaten habe ich von Lettland und seinen Bewohnern (sowohl von den permanenten als auch von den temporären) einiges gelernt:
Da wäre zum Einen diese überaus merkwürdige und nicht eben einfach zu lernende Sprache [Vergleiche hierzu auch den lesenswerten Eintrag meines Kommilitonen]. Gerade anfangs habe ich gelernt, wie man sich mit einem bemerkenswert verwirrenden Mischmasch aus Russisch, Lettisch, Englisch und Zeichensprache verständigen kann, wenn die Sprachbarriere auch unüberwindbar schien.
Da wäre zum Zweiten die wichtige Lektion, dass man geringe Distanzen nicht unterschätzen sollte:
150km auf Lettlands Straßen; dafür sollte man annähernd vier Stunden einkalkulieren. So kann sich auch ein kleines Land wie Lettland doch erstaunlich ausdehnen...
Da wäre außerdem die streitbare lettische These, dass Mayonnaise wirklich zu jedem Gericht passe.

Das wichtigsten aber, was Lettland, die Letten und ERASMUS mich gelehrt haben: Was es heißt, Europäer zu sein. Wenn man mit einer bunten Gruppe von ERASMUS-Studenten zusammen kocht, wird die Italienerin über die lettische Mayonnaisen-Obsession schimpfen, während der Belgier prinzipiell nichts gegen die Mayonnaise einzuwenden hat, die lettische jedoch nun mal keinen Vergleich zur belgischen darstelle;
wenn der Deutsche sich unter den Fackeln und Flaggen am lettischen Unabhängigkeitstag zuerst ein wenig unwohl fühlt, während die Französin die bei den Letten die Begeisterung vermisst; stellt man fest: Wir sind so unterschiedlich – aber wir teilen gemeinsam die Erfahrung, anders und fremd in diesem Land zu sein. Durch die Erfahrung der gemeinsamen Fremdheit erkennen wir dann doch, wie ähnlich wir uns eigentlich sind.

Und ich glaube, auch die Letten wissen im Grunde, dass Mayonnaise nicht zu jedem Gericht passt.

Aline Breuer

Lettisch – Ein kleines Plädoyer für eine kleine Sprache

Ach Lettland,

Du bist mir schon einer…Allzu oft wirst Du belächelt. Schrecklich platte Witze werden auf Deine Kosten gemacht- die meisten davon von Deinen eigenen Bewohnern.

Und auch wir beide hatten es ja nicht immer leicht miteinander: Deine trägen Postbeamten, Dein fettreiches, dillschwangeres Essen…dazu noch die vielen kleinen zweifelhaften Grundsatzentscheidungen, die Du nach Deiner Unabhängigkeit im Rausch des Sieges getroffen hast: Ich will Dich da insbesondere für Deine Einschätzung rügen, Kühe und Fische seien formidable Münzmotive. Auch die Wiedereinführung Deiner nicht gerade glorreichen Zwischenkriegsverfassung wird sicherlich nicht als einzigartiger Geniestreich in die politische Institutionengeschichte eingehen. Nicht zuletzt gab es dann ja auch noch diesen kleinen Schneesturm im Oktober (den ich Dir allerdings, das hab ich oft genug beteuert, bereits verziehen habe).

Aber eines, Lettland, das kann ich Dir nicht absprechen. Keiner kann das. Du hast da nämlich etwas, das, abgesehen von Deinem entfernten Verwandten Litauen (mit dem Du ja leider lange nicht mehr so gut stehst wie früher), keiner außer Dir sein Eigen nennen kann: Eine merkwürdige, wie aus der Zeit gefallen zu scheinende Sprache.

Jenes phonologische Kommunikationssystem, das mich jeden Tag mit klebrigen Gaumenlauten und langgestreckten kehligen Vokalen erfreut, mit all den Ļoti labis und Atvainojiets, mit all den dankbaren Paldies und ärgerlichen Aks: Deine einzige Staatssprache- das Lettische- ist eines von zweien lebenden Baltischen Sprachen und damit in diesem vereinten Europa, das- von wenigen Ausnahmen abgesehen- im Wesentlichen in romanischen, germanischen oder slawischen Mundarten parliert: ein kleines Kuriosum. Klar hast auch Du in den letzten tausend Jahren viele Wörter von deinen Nachbarn übernommen. Du bist schließlich auch nicht mehr der Jüngste. Und welcher Deiner indogermanischen oder finno-ugrischen Nachbarn hat sich je diesem produktiven Austausch verweigern können oder wollen? Auch Du bietest nun Tabletes in deinen Aptiekas an, auch deine Einwohner spielen Spēles und essen am Abend Kartupeļi im Restorāns.

Doch alles in allem, mein guter Freund, bleibt Deine Sprache etwas Besonderes. Und genau diese Besonderheit prädestiniert sie zu einem Projekt gemeineuropäischen Lernens und Dich zum Treffpunkt eben ihrer Lerner. Der Ökonom aus Poznań findet seinen eigenen Wortschatz in ihr ebenso wenig wieder wie die Juristin aus Bukarest oder der irische Historiker. Vor eine entsprechend blinde Justitia hat sie uns alle gestellt, als wir uns damals im August erstmals zum Sprachkurs des Erasmus-Programms trafen. Keinem von uns blieb es erspart bei Null anzufangen. Gemeinsame Erfahrung schuf gemeinsames Bewußtsein und so fanden wir uns als Freunde zusammen. Wir alle wurden vor ihrem Angesicht, vor der Herausforderung, die sie uns aufbürdete, gleich. Dank ihr.

Was wäre nötiger in diesen stürmischen Tagen?

Mein liebes Lettland, Du hast da eine Sprache, die bloßen 58% deiner Kinder als Muttersprache gilt, die in der russischen Hälfte deiner Hauptstadt nur gebrochen artikuliert und unwillig verstanden wird. Aber doch hast Du uns mit ihr, die Dein eigenes Land eben nicht eint, sondern entzweit, eine Basis gegenseitiger Solidarität gegeben, eine Ranke, an der wir gemeinsam wachsen konnten. Dafür sei Dir an dieser Stelle Dank gesagt. Also, Lettland: Liels paldies für Alles!

Ergebenst: Dein Schüler Kevin Hecken (Rīga).