Zwischen Kühen, Käse und Vulkanen

„Wir befinden uns im Jahre 50 v.Chr. Ganz Gallien ist von den Römern besetzt... Ganz Gallien? Nein! Ein von unbeugsamen Galliern bevölkertes Dorf hört nicht auf, dem Eindringling Widerstand zu leisten. Und das Leben ist nicht leicht für die römischen Legionäre, die als Besatzung in den befestigten Lagern Babaorum, Aquarium, Laudanum und Kleinbonum  liegen...“[1]

Das ist ein echter Klassiker. Ein echter Klassiker, der sich sehr gut eignet als Einleitung für einen Bericht über ein Auslandsjahr in: …. Nein, leider nicht in dem unbeugsamen von Galliern bevölkerten Dorf sondern in Clermont-Ferrand, einem kleinen Städtchen in der Auvergne. Zum Glück gibt es einen historischen Bezug, sonst wäre ich sehr traurig gewesen, diesen Klassiker nicht einbauen zu können. Darüber hinaus erfülle ich so auch meine Pflicht als Geschichtsstudentin, meinen Artikel mit hochinteressanten historischen Fakten zu bespicken:

Denn bei der Ebene von Gergovia, welche sich zehn Autominuten von Clermont-Ferrand entfernt befindet, konnte im Jahr 52 v. Chr. der Gallierfürst Vercingetorix ein nördliches Vordringen Julius Cäsars noch einmal erfolgreich abwehren. Leider nur bis zu der Schlacht um Alesia, nach welcher sich Vercingetorix mitsamt seines gallischen Heeres aus verschiedenen Gründen den Römern ergeben musste.

Was man über die Auvergne und Clermont-Ferrand sonst noch wissen sollte: Käse und Kühe. Und Vulkane. Und Michelin. Und Volvic kennt auch jeder: Der Vulkan auf dem Etikett der Volvic-Flasche ist der Puy-de-Dôme, der sensationelle „Hausberg“ von Clermont-Ferrand.

Laut der hiesigen seriösen Tageszeitung „La Montagne“ ist wird die Auvergne nach dem administrativen Zusammenschluss mit dem Département „Rhône-Alpes“, welcher in den kommenden Wochen stattfindet, das größte und beliebteste Skigebiet der Welt sein. Ich las diesen Artikel heute Morgen kurz vor einer Vorlesung (natürlich nicht währenddessen) und musste doch arg schmunzeln. Die Auvergne ist aber wirklich eine wunderschöne Region mit atemberaubenden Landschaften, und ja, es gibt auch verschiedene Skigebiete. Diese sind jedoch eher übersichtlich.

Des Weiteren stößt man an jeder Ecke auf eine Burgruine: Ein El Dorado für Geschichtsstudentinnen und Geschichtsstudenten (und kleine Mädchen, die früher Prinzessin werden wollten.)

Nach meiner Entscheidung, in dem beschaulichen Clermont-Ferrand zwei Erasmussemester an der Université Blaise Pascal zu absolvieren, musste ich erst einmal jedem (zumindest jedem, der nicht das G9 „Découvertes“ Französischbuch hatte, in welchem die Charaktere in Clermont-Ferrand leben) genauestens erklären, wo das eigentlich genau liegt, dicht gefolgt von der Frage, ob ich mir nicht eine noch kleinere Stadt hätte aussuchen können. Euch sei erneut gesagt: Nein, und ich bereue es immer noch nicht!

Blick vom Puy-de-Dôme auf Clermont-Ferrand
Blick vom Puy-de-Dôme auf Clermont-Ferrand

Auslandsjahr in Frankreich also. Dies soll kein weiterer Artikel über kulturelle Unterschiede werden und ich möchte euch nicht mit meinen Erkenntnissen über deutsch-französische Diskrepanzen langweilen. (Oder zumindest nicht ausschließlich.) Viel lieber möchte ich euch von meiner Erfahrung berichten, wie schön es ist, Gemeinsamkeiten zu finden. (Ich werde auch nicht über die Uni und das französische Universitäts- und Bildungssystem berichten, weil dies ein erfreulicher Bericht werden soll, den man gerne liest und bei dem man nicht am Ende das Bedürfnis hat, etwas kaputt zu machen.)

Von Beginn des Auslandsaufenthaltes an ist alles vor allem eine Frage der Einstellung: Komme ich in dem Bewusstsein in dieses fremde Land, in diese fremde Stadt, dass ich in einem oder in zwei Semestern wieder abreise? Oder bin ich bereit, mich vollkommen auf diese neue Stadt einzulassen, mich dort einzuleben und sie zu meiner Heimat, zu meinem „chez moi“ auf Zeit zu machen? (Unnütze Beobachtung am Rande: Das Französische kennt für einige deutsche Wörter, die etwas sehr Abstraktes beschreiben, keine Entsprechungen, wie zum Beispiel für „Heimat“, oder auch „Gemütlichkeit“.)

Anfangs schlägt natürlich der Kulturschock zu, Chaos überall, apokalyptische Zustände für den Musterdeutschen der es nicht gewohnt ist, drei Stunden anzustehen  und, am Ende der Schlange angekommen, gesagt zu bekommen, dass man jetzt Mittagspause mache und doch bitte später wieder kommen solle. Frust und Unverständnis. Nach einiger Zeit aber (nach Überschreitung des Schmerzpunktes) erkennt man die Gelassenheit, die sich gut versteckt in dieser auf den ersten Blick chaotisch anmutenden Bürokratielandschaft, die einem so fremd ist.

Aber da  ich sowieso nichts daran ändern kann, habe ich angefangen, diese Unkompliziertheit, die auf den ersten Blick einfach nur unorganisiert anmutet, wirklich zu schätzen. Und nach diesen beiden Schritten setzt der dritte Schritt ein, der faszinierendste: Man beginnt sich selbst zu verändern.

Weil sich in der Konfrontation der Andersartigkeit des Gegenübers, der fremden Kultur, mit dem eigenen Ich, der eigenen Kultur, meine Herkunft kristallisiert und ich sie verstehe. „Il faut une origine à quitter et c’est de la quitter qu’on là. » - Es braucht eine Herkunft, die man verlässt, und während dieses Verlassens wird man sich ihrer bewusst.

So hatte ich zu Beginn beschlossen, während meiner Zeit im Ausland (wo mich niemand kennt und ich dementsprechend meine mutigen Seiten mal etwas nach außen kehren kann) etwas Neues auszuprobieren: Einen Sport ausprobieren, zu dem ich vorher wenig Bezug hatte, der mich aber immer schon gereizt hatte: Klettern. Ab und an war ich mal im „Blockwerk“ in Mombach bouldern gewesen, aber so richtig hoch, draußen und am Seil – dafür war ich bislang immer zu angsthasig gewesen. Aber: Wenn man schon einmal dabei ist, mutig zu sein und sich ins abenteuerliche Ausland (Ok, mit Frankreich wirkt das nicht allzu glaubwürdig…) zu begeben, wieso nicht gleich einen neuen Sport ausprobieren.

Von meinem jetzigen Standpunkt aus betrachtet war das die beste Entscheidung, die ich hätte treffen können.

Handy Frankreich Sep-Nov 15 1083
Fontainebleau

Während der vom Hochschulsport organisierten Fahrt nach Fontainebleau, südlich von Paris, einem unvorstellbar großen und wunderschönen Waldgebiet, dem größten Bouldergebiet Europas, lernte ich nämlich die Leute kennen, die mir jetzt schon fehlen wenn ich darüber nachdenke, bald wieder abreisen zu müssen.

Nach Fontainebleau nahm ich noch an einer Fahrt an die Ardèche teil (meiner Meinung nach eines der schönsten Gebiete Frankreichs), und privat organisierten wir ein langes Kletterwochenende in der Tarnschlucht, wo ich mir aufgrund der atemberaubenden Landschaft ein bisschen vorkam wie im Film „Avatar“. Der Sport hat sich also in Sachen Integration deutscher Erasmusstudentinnen und Brückenbau für die deutsch-französische Freundschaft als sehr effektiv erwiesen. (Unnütze Beobachtung am Rande: Mein französischer Wortschatz hat so vor allem im Bereich „Körper“ und „Bewegung“ eine unglaubliche Aufwertung erfahren. Anfangs kannte ich für die technischen Vokabeln des Kletterns nicht die deutsche Entsprechung, Beispiel: „Escalade en tête“ ist das deutsche „Vorstieg klettern“, was ich erst nach einiger Zeit herausfand. Ich fand diese Beobachtungen komisch aber gleichzeitig auch interessant, denn das gleicht dem Sprachlernprozess eines Kindes, welches nicht ein schon bekanntes Wort in eine andere Sprache übersetzt sondern ein ganz neues Wort lernt, um sein Erleben zu verbalisieren.)

Gorges du Tarn
Gorges du Tarn
Ardèche - Märchenlandschaft
Ardèche - Märchenlandschaft

À propos Sprache! Was mit bisher bereits sehr viel gebracht hat sind Diskussionen über Sprache (Vokabeln erfragen, Wortwitze und metaphorische Ausdrücke erklärt bekommen, Umgangssprache hinterfragen).

Bei dem Versuch, hier Freunde zu finden, stellt Sprache ab einem bestimmten Punkt aus den unterschiedlichsten Gründen ein Hindernis dar. Fehlende Vokabeln – Lücken im Wortschatz, das Verwenden von Vokabeln und Ausdrücken an falscher Stelle und, ja das klingt erst mal komisch ist aber ein richtiges Problem: das Unvermögen, lustig zu sein und Witze zu machen.

Humor übersetzt sich nur sehr schwer. Gestern Abend war ich mit deutschen Freunden im Improvisationstheater und hatte wirkliche Schwierigkeiten, grade, wenn es um Wortwitze oder innerkulturelle Seitenhiebe auf beispielsweise den (sehr lustigen) Akzent der Südfranzosen geht, die man als Nichtfranzose ohne Erklärung einfach nicht verstehen kann.

Das einzige was hier hilft ist, Fragen zu stellen und, wenn man grade einen Witz auf der Zunge hat und nicht weiß, ob er sich übersetzt, es einfach zu versuchen. Ein Lacher ist es auf jeden Fall, meistens grade weil er sich nicht übersetzt.

Ich hatte jedenfalls ein paar sehr lustige Momente beim Übersetzen deutscher Ausdrücke (wohlwissend, dass es sich nicht übersetzt) aber Sprache ist ja zum Glück ein unendlicher Baukasten, der nicht nachtragend ist. („Toujours doucement avec les jeunes chevaux“ – Immer langsam mit den jungen Pferden. Die anderen sind jetzt jedenfalls um einen Ausdruck reicher.).

Montpellier
Kurztrip nach Montpellier Ende September

Irgendwann gelangte ich aber auch zu folgender frustrierender Erkenntnis: Ich habe zwar Freunde gefunden, mit denen ich viel Spaß habe und die mich als Menschen mögen (bisher zumindest), sie kennen mich aber nur als Christina, die französisch spricht, also mit eingeschränkten sprachlichen Möglichkeiten, mich mitzuteilen. Meiner Meinung nach kennen sie also nur circa 90 % von mir. Weil ich mich niemals zu 100 % so ausdrücken kann, wie ich möchte, in Diskussionen nie meine Meinung zu 100 % mitteilen kann, weil mir die Mittel fehlen. Sie haben mich auch als viel stiller kennengelernt, als ich eigentlich bin, aus dem gleichen Grund. Frustrierend ist diese Erkenntnis, aber natürlich auch interessant. Und mit der Zeit, die ich hier bin, wächst auch meine kommunikative Kompetenz, ebenso wie mit der Freundschaft und der unglaublichen Geduld, mit der die anderen mir begegnen. (Zugegeben, nach dem vierten Mal nachfragen, wenn man etwas nicht verstanden hat, kommt man sich eher beschränkt vor.)

Ich habe jetzt sozusagen Halbzeit. In zwei Wochen fahre ich über Weihnachten nach Hause, worauf ich mich sehr freue, aber ich freue mich auch vor allem darauf, wieder hierher zurückzukommen nach Clermont-Ferrand. In mein kleines Städtchen, zu meinen unbeugsamen Arvernern, die ich sehr lieb gewonnen habe.

[1] Vgl.: Asterix und Obelix: Der Arvernerschild (Le bouclier arverne), Goscinny und Uderzo, 1968.

Lac Pavin ( Ende November im Vulkansee schwimmen )
Lac Pavin
( Ende November im wunderschönenVulkansee schwimmen )

Christina Kunkel, 10.12.2015