Schwein – C. – II.2 Tierkunde, Enzyklopädik

Die seit dem späten 12. Jh. entstehenden Enzyklopädien bedeuten einen entscheidenden Schritt von der reinen Kompilation exegetischer und zoologischer Positionen der Spätantike hin zur realen Naturbeobachtung im modernen Sinn. Die Werke von Thomas von Cantimpré (TC), Alexander Neckham (AN), Albertus Magnus (AM), Vinzenz von Beauvais (VB), Bartholomaeus Anglicus (BA) sowie einem erst in jüngster Zeit edierten Anonymus Experimentator (ER) zeichnen sich dadurch aus, dass sie dem bereits Bekannten Exzerpte aus Aristoteles’ Historia Animalium, Plinius’ Historia Naturalis sowie anderen einschlägigen Autoren (wie Isidor, Hrabanus etc.) hinzufügen. Der aus dem Physiologus vertraute Grundsatz, dass ein Naturphänomen spirituell oder moralisch auslegbar sein muss, wird zunächst noch beibehalten. Die Schwärze des Ebers bedeutet dann bei TC die schwarze Wildheit gewalttätiger Weltmenschen, die Rückwärtskrümmung der Hauer veranschaulicht, dass der, der einem anderen Schaden zufügen möchte, sich vorher schon selbst verwundet. Der Umstand, dass die Hauer nur einen halben Fuß lang sind, zeigt an, dass man einen Menschen zwar an seinem Leib beschädigen kann, seine Seele aber dabei nicht erreicht. Alle Enyklopädisten schreiben mit Respekt über die Bewaffnung dieses Tieres, die culmi oder auch dentes apri, die wie ein Schwert benutzt werden (BA), und das scutum oder den clipeus, die als Schild dienende verhärtete Flanke. Das typische, der Körperpflege dienende Scheuern an harzigen oder grobrindigen Bäumen (arborum confricatio, AM) wird als Herstellung und Verbesserung des Schildes gedeutet (TC, AM, BA, VB, ER). Der Eber rüstet sich für einen bevorstehenden Kampf durch Schärfen seiner Hauer an Bäumen und probiert sie dann an ihnen aus (ad arbores ipsos probat, BA). Absonderliches weiß AN über die Kraft des Eberzahns zu vermelden. Von seinem Träger getrennt behält er, wie AN mit Verwunderung referiert, seine Schärfe, wenn aber der ursprüngliche Besitzer stirbt, wird er stumpf. Diese Information findet sich in modifizierter Form auch bei TC, doch ist hier nicht von einem Entfernen des Eberzahns bei lebendigem Leibe die Rede, vielmehr wird der Zahn kraftlos, sobald das Tier erlegt ist. Bei VB finden sich beide Versionen nacheinander, ohne dass eine Auflösung des Widerspruchs erkennbar wäre. Wegen der nach oben gerichteten Krümmung des Eberzahns hat ein von diesem Tier gestellter Jäger eine gewisse Chance, mit dem Leben davon zu kommen, wenn er sich flach auf den Boden drückt. Besser aber sei es, sich hinter oder auf einen Baum zu flüchten, da man immer noch von den trampelnden Läufen zerstampft werden könne (iacentem humo (aper) conculcat, AG, auch TC, BA, VB). Der Eber greift erst dann den Menschen an, wenn er in Bedrängnis geraten ist und einen Lanzenstoß erhalten hat (TC), dann aber mit aller Kraft und Unnachgiebigkeit. Er rennt sogar geradewegs und ohne Furcht in den Spieß des Jägers (BA). Schon geschwächt gibt er nicht nach (TC), oder er täuscht sogar Schwäche nur vor (TC), sammelt, obwohl getroffen, die verbliebenen Kräfte, um sich mit den Hauern an seinem Feind zu rächen (BA). Am wildesten ist das Gebaren während der Brunftzeit, wenn um die Sauen gekämpft wird (BA, VB, ER). Dann scharren die Eber mit ihren Hufen, ihre Borsten richten sich auf. Sie schwingen ihre Hauer und zeigen ihre innere Erregung durch furchteinflößendes Schnauben (horrendo gemitu furiam pectoris ostendunt, BA). Auch die Sau kann dem Menschen gefährlich werden, insbesondere, wenn sie ihre Jungen zu versorgen hat. Ohne Hauer, aber mit einem starken und scharfen Gebiss kann sie sich und die Jungen wirksam gegen Feinde verteidigen (TC, AM, VB, BA). Nach BA ist hierbei auch der Eber aktiv. Mit seinen Hauern schützt er angeblich seine Partnerin und seine Nachkommenschaft, doch reflektiert diese Behauptung eher zeitgenössische ritterliche Tugenden als reale Naturbeobachtung. AM unterstreicht dagegen, zoologisch korrekt, dass nur die Sau zur Rottenbildung tendiere (gregatim vadit), der Eber aber, wie schon aus Psalm 79 bekannt, ein singularis ferus, ein wilder Einzelgänger sei. Wenig später jedoch versichert AM, dass Eber, die gerade noch wild miteinander gekämpft hätten, sich sofort zu gegenseitiger Hilfe verbündeten, wenn Wölfe auftauchen, und ebenso reagierten, wenn sie die Stimme eines in Not geratenen Artgenossen vernähmen. TC behauptet, dass der Gehörsinn des Ebers den aller übrigen Tiere übertreffe (cunctas bestias precedit auditu), ebenso und mit den gleichen Worten VB, differenzierter aber AM, der diese Fähigkeit nur im gerade zitierten Zusammenhang der Hilfeleistung für ein einzelnes Individuum erwähnt. TC zitiert für seine Ansicht die Merkverse Nos aper auditu, linx (→Luchs) visu, simia gustu / Vultur odoratu precedit, aranea (→Spinne) tactu (TC IV, 1,1), die auch in der bildenden Kunst reflektiert werden. Angesichts der zu seiner Zeit (13. Jhdt.) bereits stark vertretenen Beschreibungen realer Naturphänomene gibt sich das Lehrgedicht De naturis animalium des Konrad von Mure recht traditionell, zum Teil geradezu als Versifikation bekannter Deutungen aus Isidor und Rabanus Maurus (cf. B. 2: sus/porcus: Lev 11,7 > bei Konrad von Mure, 5,935: Vngula fissa suis est, sed non ruminat escas). – Alle Enzyklopädien haben, entweder im Anschluss an die Behandlung des aper oder als eigenes Kapitel an der entsprechenden Stelle des Alphabets, Ausführungen zum Hausschwein (porcus oder sus). Anfangend mit den traditionellen Negativwertungen gehen die Autoren (insbesondere VB) auf viele Details der Schweinezucht ein und beschäftigen sich auch mit der Verwertung des Schweinekörpers für medizinische Zwecke. Näheres dazu im folgenden Abschnitt.

Ausg.: Enzyklopädisches zu Schwein und Eber: Alexander Neckham, De naturis rerum, I, 139 (AN), ed. T. Wright, 1863; Thomas von Cantimpré, Liber de natura rerum, IV, 3f., ed. H. Boese, 1973 (TC); Bartholomaeus Anglicus, De proprietatibus rerum, XVIII, 6 & 85, 1601 (Reprint 1964) (BA); Albertus Magnus, De animalibus, XXII.2, cap. 1,9 ed. H. STADLER, 1916-1920 (AM); Vincent de Beauvais, Speculum naturale, XVIII, 5f. & 78-86, 1624 (Reprint 21964) (VB). Der “Experimentator” eine anonyme lateinische Naturenzyklopädie des frühen 13. Jh.s, XIII, 4 (ER), ed. J. Deus, 1998, 191f.; Konrad von Mure, De naturis animalium, ed. A. P. OrbÀn, 1973.

Lit.: C. Nordenfalk: The Five Senses in Late Medieval and Renaissance Art, Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 48 (1985), 1-22; M. Pastoureau: Le bestiaire des cinq sens (XIIe-XVIe siècle), in: Micrologus 10 (2002), 133-145.

Wilfried Schouwink

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