Wolf – E.1 – IV.1 Narrative Texte

Sögur: In den altnordischen Sögur werden Friedlose häufig als vargr bezeichnet. So beispielsweise auch der prominente isländische Held Grettir (Grettis saga Ásmundarsonar, Kap. 71). Der Terminus vargr bedeutet sowohl ›Wolf‹ als auch ›Verbrecher‹. Er wird auch in den altnordischen Rechtstexten, beispielsweise der Grágás, als Bezeichnung für Verbrecher und Geächtete neben skóggangsmaðr (›Waldgänger‹) verwendet. In den Gesta Danorum des Saxo Grammaticus wird eine Form der Hinrichtung genannt, welche die Verbindung von Wolf und Verbrecher drastisch veranschaulicht (Liber V, XII; VIII, X). Diebe und Mörder werden demnach gemeinsam mit einem Wolf aufgehängt. In der Ynglinga saga des Snorri Sturluson befindet sich die ausführlichste Schilderung jener Wolfskrieger, die als Úlfheðnar (›Wolfshäuter‹) bezeichnet werden (Kap. 6). So wie Berserkir stellen auch Úlfheðnar Mitglieder einer Art Kriegerelite mit Bezug zum Odinskult dar, die mit Tierfellen bekleidet im Zustand ekstatischer Kampfeswut auftreten. Dieses Bild wird auch von einigen Íslendinga sögur, der Grettis saga Ásmundarsonar (Kap. 2), der Vatnsdoela saga (Kap. 9) und der Eyrbyggja saga (Kap. 25) vermittelt. Neben der Wolfsvermummung wissen die Sögur auch von Metamorphosen zu berichten. In der Egils saga Skallagrímssonar wird vom Großvater des Helden gesagt, er verwandle sich am Abend und gehe in der Gestalt eines Wolfes umher (Kap. 1). Daher werde er Kveldúlfr (›Abendwolf‹) genannt. In der Völsunga saga eignen sich Sigmund und sein Sohn Sinfjötli magische Wolfsgewänder an und verwandeln sich mit deren Hilfe in Wölfe (Kap. 8). Wolfsgestaltige Fylgjen (Folgegeister), die dem Schlafenden im Traum erscheinen, verweisen auf bevorstehende Feindseligkeiten und Konflikte. In der Brennu Njáls saga beispielsweise träumt Gunnar, dass ein Wolf seinen Bruder Hjörtr tötet (Kap. LXII). Hjörtr trotzt dieser Warnung, akzeptiert seinen im Traum prophezeiten Tod und will seinen Brüdern im Kampf beistehen. Tatsächlich kommt es bald darauf zu einer Auseinandersetzung mit Gunnars Widersachern, in welcher Hjörtr den Tod findet. Der Wolf im Traum war die Fylgja eines Feindes. Wolf- Namen sind in den Sögur und der ganzen altnordischen Literatur überaus zahlreich bezeugt. Am häufigsten sind zweitgliedrige Komposita wie Geirúlfr, Gunnúlfr, Rúnólfr oder Hildólfr. Nicht selten wird úlfr mit anderen Tierbezeichnungen kombiniert. So etwa mit dem → Bären (Björnúlfr), dem → Adler (Örnúlfr) und dem → Eber (Jórúlfr). Als Erstglied, wie in den folgenden Beispielen, taucht úlfr weit seltener auf: Úlfheðinn, Úlfrún, Úlfkell. Das mit dem Appellativ formal identische Simplex Úlfr war sehr gebräuchlich. Allein die Landnámabók nennt etwa 20 Träger dieses Namens. Auch einige Waffennamen beziehen sich auf den Wolf und scheinen an dessen Aggressivität und Kampfkraft zu appellieren (z. B. der Schwertname Verúlfr). In einigen Sögur werden Schwerter erwähnt, auf denen ein Wolf bildlich dargestellt ist.

Ausg.: P. HERRMANN: Die Heldensagen des Saxo Grammaticus. ed. P. HERRMANN, 1901; Saxonis Gesta Danorum, t. I, ed. J. OLRIK/ H. RÆDER, 1931; S. NORDAL (ed.): Egils saga Skalla-Grímssonar. Ízlenzk Fornrit II, 1933; E. Ó SVEINSSON/M. ÞÓRÐARSON (ed.): Eyrbyggja saga. Íslenzk Fornrit IV, 1935; G. JÓNSSON (ed.): Grettissaga Ásmundarsonar, Bandamanna saga, Odds þáttr Ófeigssonar. Íslenzk Fornrit VII, 1936; E. Ó. SVEINSSON (ed.): Vatnsdoela saga, Hallfreðar saga, Kormáks saga, Hrómundar þáttr Halta, Hrafns þáttr Guðrúnarsonar. Íslenzk Fornrit VIII, 1939; B. AÐALBJARNARSON (ed.): Snorri Sturluson, Heimskringla I. Íslenzk Fornrit 26, 1941; E. Ó. SVEINSSON (ed.): Brennu-Njáls saga. Íslenzk Fornrit XII, 1954; J. BENEDIKTSSON (ed.): Íslendingabók, Landnámabók. Íslenzk Fornrit I:1-2, 1968; K. GRIMSTAD (ed.): Völsunga saga. The Saga of the Volsungs, ed. K. GRIMSTAD, 2000.

Lit.: H. FALK: Altnordische Waffenkunde, 1914; L. WEISER: Altgermanische Jünglingsweihen und Männerbünde, Bausteine zur Volkskunde und Religionswissenschaft 1 (1927); G. CHR. VON UNRUH: Wargus. Friedlosigkeit und magisch-kultische Vorstellungen bei den Germanen, Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung 74 (1957), 1-40; G. MÜLLER: Studien zu den theriophoren Personennamen der Germanen, Niederdeutsche Studien 17 (1970); M. JACOBY: Wargus, Vargr, »Verbrecher«, »Wolf«. Eine sprach- und rechtsgeschichtliche Untersuchung, Acta Universitatis Upsaliensis. Studia Germanistica Upsaliensia 12 (1974); E. MUNDAL: Fylgjemotiva i norrøn litteratur, Skrifter fra instituttene for nordisk språk og litteratur ved universitetene i Bergen, Oslo, Trondheim og Tromsø 5, 1974; H. BECK u. a. (ed.): Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, s. v. Berserker; M. PAUL: Wolf, Fuchs und Hund bei den Germanen, 1981; W. SCHILD: Missetäter und Wolf, in: Wirkungen europäischer Rechtskultur, 1997, 999-1031.

Gylfaginning: Der isländische Historiker und Mythograph Snorri Sturluson berichtet in der Gylfaginning, dem ersten Hauptteil der Prosa-Edda (auch Snorra-Edda oder Jüngere Edda) von verschiedenen mythischen Wölfen. An erster Stelle ist der Fenriswolf (Fenrisúlfr oder Fenrir) zu nennen (Kap. 34, 51). Laut Snorri ist er ein Kind des heimtückischen Gottes Loki und der Riesin Angrboða. Seine Geschwister sind die Todesgöttin Hel und die Midgardschlange. Nachdem die Götter durch Weissagungen erfahren, dass von Lokis Kindern großes Unheil ausgehen wird, ergreifen sie die Geschwister, um sie unschädlich zu machen. Die Götter lassen die magische Fessel Gleipnir anfertigen, welche sich Fenrir jedoch nur anlegen lassen möchte, wenn einer der Götter seine Hand als Pfand in seinen Rachen legt. Nur Týr hat den Mut, dieses Pfand zu leisten. Der Fenriswolf kann sich nicht von Gleipnir befreien und beißt Týr die Hand ab. Daraufhin stecken die Götter ihm ein Schwert als Gaumensperre ins Maul. So liegt der Dämon gebannt bis zu den Ragnarök. Dann wird sich der Wolf von seinen Fesseln befreien, auf der Seite der bösen Mächte gegen die Götter Krieg führen und schließlich den Göttervater Óðinn verschlingen. Víðarr wird seinen Vater rächen und den Wolf töten, indem er seine Kiefer aufstemmt und auseinander bricht (Kap. 51). Ferner erzählt Snorri von einer Trollfrau, die im Wald namens Járnviðr Riesensöhne in Wolfsgestalt zur Welt bringt (Kap. 12). Einer dieser Wölfe heißt Sköll (›Spott‹). Er verfolgt die Sonne auf ihrem Lauf über den Himmel und wird sie einst einholen und packen. Ein weiterer Wolf heißt Hati (›Hasser‹). Er läuft vor der Sonne weg und jagt hinter dem Mond her, den er schließlich verschlingen wird. Identisch mit Fenrir scheint der Wolf Mánagarmr (›Mondhund‹ oder ›Mondwolf‹) zu sein. Er sei voll des Lebens derer, die sterben, er werde den Mond verschlingen und den Himmel mit Blut bespritzen. Daraufhin werde auch die Sonne ihren Schein verlieren und Stürme begännen zu toben. Dem Kriegsgott Óðinn gehören zwei Wölfe mit den Namen Geri (›der Hungrige‹) und Freki (›der Gierige‹). Sie sitzen bei ihrem Herrn in Valhöll und erhalten Speise von seinem Tisch (Kap. 38). Er selbst nimmt nur Wein zu sich. Als Reittier der Riesin Hyrrokkin tritt ein Wolf in Snorris Bericht über die Bestattung Balders in Erscheinung (Kap. 49). Giftschlangen dienen der Wolfsreiterin als Zügel.

Ausg.: Edda. Prologue and Gylfaginning, ed. A. FAULKES, 1982.

Lit.: E. WILKEN: Fenriswolf, Zeitschrift für Deutsche Philologie 28 (1896), 156-198, 297-348; M. PAUL: Wolf, Fuchs und Hund bei den Germanen, 1981; H. BECK u. a. (ed.): Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, s. v. Fenrir, Fenriswolf, s. v. Garm; W. HEIZMANN: Fenriswolf, in: Mittelalter Mythen 2: Dämonen, Monster, Fabelwesen, 1999, 229-255.

Lieder-Edda: In mehreren Liedern des Codex Regius (Lieder-Edda oder Ältere Edda) wird auf den Fenriswolf, seine Herkunft, Bannung und zukünftige Rolle als Götterfeind angespielt. In den Vafþrúðnismál (Str. 53) heißt es, Fenrir werde Óðinn verschlingen und Víðarr werde seinen Vater rächen. Die Lokasenna bezeichnet Loki als Vater des Wolfes (Str. 10). In Strophe 39 entgegnet Týr den Schmähungen Lokis, dass er zwar seine Hand verloren habe, der Wolf aber bis zu den Ragnarök gebannt sei. In Strophe 41 sagt Freyr, der Wolf liege gefesselt an der Flussmündung, bis die Götter untergehen. Eine besondere Rolle spielt der Fenriswolf in der Weltuntergangsvision der Völuspá. Hier heißt es, der Wolf reiße Männer (Str. 39), fresse die Leiber von Getöteten und bespritze die Göttersitze mit Blut (Str. 41). Die Alte im Eisenwald gebäre Fenrirs Geschlechter, aus denen einer in Trollgestalt die Sonne rauben werde (Str. 40). Schließlich komme der Wolf mit Loki und den Riesen zur Endschlacht angestürmt (Str. 51) und kämpfe gegen Óðinn (Str. 53). Víðarr töte aber den Wolf,  indem er ihm sein Schwert in die Brust steche (Str. 55). In den sich refrainartig wiederholenden Strophen 44, 49 und 58 sieht die Visionärin den Hund Garmr vor Gnipahellir bellen und den entfesselten Fenriswolf losrennen. Die Hymiskviða (Str. 23) nennt die → Midgardschlange Bruder des Wolfes und in Helgakviða Hundingsbana in fyrri (Str. 40) werden Wölfe als Fenriswölfe bezeichnet. In den Grímnismál treten Óðinns Wölfe Geri und Freki auf (Str. 19). Ferner hänge dort ein Wolf westlich des Tores (Str. 10). In den Hamðismál werden Wölfe als Hunde der Nornen (grey norna) bezeichnet (Str. 29). Das nicht im Codex Regius überlieferte eddische Lied Hyndlolióð nennt Loki und Angrboða als Eltern des Wolfes (Str. 40). Neben → Rabe und → Adler taucht der Wolf in den Liedern der Edda als Tier der Walstatt in Erscheinung. Nach der Schlacht labt sich das Raubtier an den Körpern der Gefallenen. In Guðrúnarkviða önnur zum Beispiel wird Guðrún vom Mord an ihrem Gatten berichtet. Es heißt, Sigurðr liege jenseits des Flusses und sei den Wölfen überlassen (Str. 7). Guðrún sucht den Tatort auf, um die Reste der Wölfe (vargar leifar), d. h. die zerfressenen Leichenteile ihres erschlagenen Gatten aufzulesen (Str. 11). Später sagt Guðrún, sie wolle nicht Atlis Frau werden, denn sie könne nicht mehr glücklich sein, seitdem Wolf und → Rabe das Herzblut ihres Mannes tranken (Str. 29). Schließlich heiratet sie den Hunnenkönig dennoch und sendet ihren Brüdern einen Ring mit einem Wolfshaar, um sie vor der verräterischen Einladung ihres neuen Gatten zu warnen (Atlakviða, Str. 8). Das Wolfshaar teilt den Niflungen mit, dass ihre Reise »wölfisch« (ylfscr) sein wird, d. h. es wird zu Kampf und Totschlag kommen. Für Helgi den Hundingstöter ist eine starke Wolfsaffinität zu verzeichnen. Sie äußert sich insbesondere im Namen seines Geschlechtes (Ylfingar) und in der Tatsache, dass er sich selbst als grauer Wolf (úlf grán) bezeichnet (Helgakviða Hundingsbana önnur, Str. 1). Auch die Verbindung Wolf-Verbrecher ist in den Eddaliedern greifbar. Die chaotische Zeit vor dem Weltuntergang, in der Unrecht und Gewalt herrschen, wird als Beilzeit, Schwertzeit, Windzeit und Wolfszeit (vargöld) umschrieben (Völuspá, Str, 45). Neben Meineidigen und Ehebrechern werden auch ,Mord-Wölfe‘ (morðvargar), d. h. Mörder an postmortalen Straforten gequält (Völuspá, Str, 39). In den Hamðismál wird der Galgen als ,Wolfsbaum‘ (vargtré) bezeichnet (Str. 17).

Ausg.: Edda, ed. G. NECKEL/ H. KUHN, 51983.

Lit.: E. WILKEN: Fenriswolf, Zeitschrift für Deutsche Philologie 28 (1896), 156-198, 297-348; H. BECK: Tiere der Jagd und der Walstatt in den eddischen Liedern, in: Das Tier in der Dichtung, 1970, 55-73; M. PAUL: Wolf, Fuchs und Hund bei den Germanen, Wiener Arbeiten zur Germanischen Altertumskunde und Philologie 13 (1981); W. HEIZMANN: Fenriswolf, in: Mittelalter Mythen 2: Dämonen, Monster, Fabelwesen, 1999, 229-255.

Sigmund Oehrl

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