Elefant – E.4 – III.1 Fabel

In der äsopischen Fabel spielt der Elefant als Fabelprotagonist keine Rolle (aber → E.4 III.2). Auch in den nichtäsopischen deutschsprachigen Fabelsammlungen kommt der Elefant selten vor. Das in der Tradition des indischen Pañcatantra stehende Buch der Beispiele der alten Weisen Antons von Pforr (um 1470) stellt mit Elefant und alter Hase (BdB, Nr. 5.2, DICKE/GRUBMÜLLER, Nr. 84) den Elefant als einfältiges, leicht zu beeindruckendes und überaus ängstliches Tier dar, das trotz seiner physischen Stärke dem kleinen, aber listigen Hasen unterliegt. Als Binnenfabel höheren Grades entfaltet diese Fabel neben der expliziten Moral (Empfehlung des einfältigeren Herrschers, der auf gute Ratgeber hört) eine implizite Moral (Handle listig, wenn du der Schwächere bist). Diese Moral wird bei Hans Sachs, der die Fabel ohne Rahmenfabel rezipiert (GOETZE/DRESCHER V, Nr. 780, S. 284f.), explizit formuliert. In der Fabel Viper (Natter) und Elefant (Nr. IV,10, DICKE/GRUBMÜLLER, Nr. 563) aus Ulrichs von Pottenstein Buch der natürlichen Weisheit (Anf. 15. Jh.), der deutschen Übersetzung der lateinischen Cyrillus-Fabeln (→ C. III.2), klärt der Elefant die liebesgeile → Viper (Natter) über die Verwerflichkeit der Unkeuschheit auf. Eingeordnet findet sich diese Fabel in das vierte Buch, das gegen das Laster der Unkeuschheit mithilfe der Tugend der Mäßigung vorgeht. Bei dieser Fabel stand offenbar die Elefantensymbolik des Physiologus Pate (→ C. II.1). Eine ausgesprochene Vorliebe für den Elefant als Fabelprotagonisten zeigt Jakob Koppelmann mit seiner deutschen Bearbeitung des Mishle Shu’alim (1583). Hier tritt in → Äffin und Jupiter (D/G K 12), in Äffin und ihre Kinder (DICKE/GRUBMÜLLER, Nr. 13) und in Fuchs und Affe III (DICKE/ GRUBMÜLLER, Nr. 174) der Elefant an die Stelle des Affen bzw. der Äffin, die sich sonst in äsopischer Tradition finden lässt. Der Elefant übernimmt dabei die Rolle des Ge- bzw. Enttäuschten. Ebenfalls bei Koppelmann findet sich die jüdische Fabel Zwei Elefanten und der Löwe (DICKE/GRUBMÜLLER, Nr. 85, vgl. Berechiah ha-Nakdan, Nr. 67): Ein geiziger und ein missgünstiger Elefant wollen dem Löwen ihre Bitte vortragen. Der Löwe verspricht Gewährung unter der Bedingung, dass der zweite Bittsteller doppelt so viel erhalte wie der erste. Der geizige Elefant lässt dem missgünstigen den Vortritt; doch da dieser wünscht, dass ihm ein Auge ausgestochen werde, verliert er beide Augen. In der Welt der deutschsprachigen mittelalterlichen Fabel tritt der Elefant – außer im geistlich geprägten Buch der natürlichen Weisheit – vor allem als Negativbeispiel auf und vertritt den Typus des Leichtgläubigen, leicht zu Täuschenden und des durch eigene Schuld Getäuschten.

Lit.: G. DICKE/K. GRUBMÜLLER: Katalog der Fabeln des Mittelalters und der frühen Neuzeit, 1987 [dort auch Hinweise zu den relevanten Textausgaben]. – Zu Elefant und Hase: S. OBERMAIER: Verborgener und offenbarer Sinn, in: FS U. Ruberg, 2003, 55-57; S. OBERMAIER: Fabelbuch als Rahmenerzählung, 2004, 279. – Zu Zwei Elefanten und der Löwe: H. SCHWARZBAUM: The Mishle Shu’alim (Fox Fabels) of Berechiah ha-Nakdan, 1979, 341-345.

Sabine Obermaier

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